Hermann Speckmann
Die wilden 70er Jahre
im Landkreis Oldenburg
Hermann Speckmann
Eigenverlag Ganderkesee 2009
Hermann Speckmann
Die wilden 70er Jahre
im Landkreis Oldenburg
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
1.1. Eindrücke von der Verwaltung des Landkreises Oldenburg
2. Die Auseinandersetzung zwischen dem Landkreis Oldenburg
(Oldb)/Jugendamt und den Jugendinitiativen
2.1. Der hoffnungsvoll Anfang
2.2. Zeitschrift der Jusos
2.3. Literaturliste als Konfliktauslöser
2.4. Auch Kreisjugendpfleger Grote gibt auf
2.5. Intermezzo Lovis
2.6. Auseinandersetzung der Initiativgruppen mit dem Kreisjugendring
– Der Pressekrieg
2.7. Eine entlarvende Peinlichkeit
2.8. Landesjugendring berichtete über die Vorgänge im Landkreis
2.9. Eine wundersame Wandlung?
2.10. Geforderte Anpassung an bürokratisch-rechtliche Strukturen
2.11. Erfolge und Lösungsversuche
2.12. Rhetorik der SPD
2.13. Das Ende der Initiativgruppen
3. Die Arbeit der Jungsozialisten im Unterbezirk Oldenburg-
Land während der„Wilden Jahre“!
3.1. Einführung
3.2. Jugendhäuser in den Gemeinden
3.3. Die Schafherde auf dem Pestruper Gräberfeld
3.4. Planung eines „Großflughafens“ im Naturschutzgebiet Wildeshauser
Geest
3.5. Verquickung von Beruf und Mandat des Günter Bertelmann
3.6. Klageverfahren des Abgeordneten Bertelmann gegen Peter Groß.
3.7. Der Dötlinger BaulandskandaI
3.8. Umgang mit den Vorwürfen durch die Parteien und der Verwaltung
3.9. Fehlende Stimmen der SPD bei Wahl des Ministerpräsidenten
des Landes Niedersachsen 1976
4. Der Traum von einem selbst verwalteten Jugendzentrum in
Ganderkesee
5. Die „weiße Industrie“ und die SPD in Ganderkesee
6. Ein Buch und seine Folgen
7. Anhang
1. Einführung
1966/1967 formierte sich die antiautoritäre Studentenbewegung, die für sich als
Erklärungs- und Handlungsmodell die marxistische Theorie entdeckte. Es entwickelte
sich eine Aufbruchstimmung mit einem diffusen Wunsch nach gesellschaftlicher
Ver än derung. In der Folgezeit bildeten sich diverse Ausprägungen (Hausbesetzer,
Heimkampagne, Lehrlingsbewegung, selbst organisierte Arbeiterkultur, Frauenbewegung,
Friedensbewegung, Kommunen usw.) dieser Bewegung, so auch Initiativgruppen
mit der Forderung nach Einrichtung selbstverwalteter Jugendzentren.
Außerhalb eines militanten Kerns erfasste diese Bewegung auch junge Menschen, die
durch den Eintritt in die SPD meinten, die politische Kultur der Bundesrepublik im
Sinne einer Demokratisierung verändern zu können. Orientierungspunkt war sicher
auch Willy Brandt, der 1969 gesagt hatte, dass man mehr Demokratie wagen wolle.
Das war auch bitter notwendig. Im Nachkriegsdeutschland bestanden weiterhin die
Lebensmodelle der Kaiser- und Nazizeit. Sie überstanden Krieg und Diktatur sowie
die von den Alliierten verordnete Demokratisierung. Die junge Bundesrepublik war
für viele Heranwachsende eine autoritäre, vermiefte Spießerhölle. Die 68er Bewegung
brachte autoritäre Denkmuster ins Wanken. Die Studenten formulierten: „Unter den
Talaren, der Muff von 1000 Jahren.“
Im Rechtssystem führte dies u.a zur Abschaffung des Kuppeleiparagrafen und des
Ehebruchs als Straftatbestand. In Rheinland-Pfalz wurde die Prügelstrafe in den
Schulen abgeschafft. Die Gleichstellung der Frau wurde auch im ehelichen Verhältnis
durchgesetzt und Oswald Kolle leitete die „sexuelle Revolution“ ein.
Um 1970 erreichte diese Bewegung auch junge Menschen aus der Gemeinde Ganderkesee.
Sofern sie parteipolitisch arbeiten wollten, traten sie mehrheitlich der SPD als
Jungsozialisten (Jusos) bei. Aber auch in der CDU gab es Jugendliche, die einer Aufbrechung
gesellschaftlicher Formen zugeneigt waren!
In einer Aufbruchstimmung eigneten sie sich mit großem Fleiß in zahlreichen Arbeitsgruppen
und Zusammenhängen das für eine politökonomische Analyse und Veränderung
der „spätkapitalistischen Gesellschaft“ erforderliche Wissen an. Dies wurde
ganz überwiegend aus der marxistischen Gesellschaftsanalyse bezogen.
Wie sich später herausstellen sollte, war der Verfassungsschutz immer mit dabei.
So bekam Günter Grote, obwohl im Vorstand einer Ortsgruppe der SPD, erhebliche
Schwierigkeiten bei der Einstellung als Lehrer (Radikalenerlass). Ich erfuhr, als ich als
Ratsherr eine Raketenstellung der Bundeswehr besichtigen wollte, dass der Verfassungsschutz
eine Akte über mich angelegt hatte.
Im Landkreis Oldenburg wurde die wieder entdeckte marxsche Theorie der Erklärung
gesellschaftlicher Verhältnisse von Jugendlichen und Heranwachsenden genutzt, um
die Einrichtung von selbst verwalteten Jugendfreizeitzentren zu fordern. Da dieses
Thema einen Großteil der nachfolgenden Berichte ausmacht, folgt beispielhaft eine
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Aussage dazu, wie Beteiligte der Auseinandersetzung damals die Lage der Jugendlichen
sahen. Sie zitierten aus einem Aufsatz von Hübner/ Lieber/ Reichelt aus der Zeitschrift
„Erziehung und Klassenkampf“, 1/71:
„Die Stellung der Jugendlichen im Produktionsprozeß ist durch die folgenden 5 Kriterien
erfüllt:
a) Der Jugendliche wird wie seine Klassengenossen gezwungen, seine Arbeitskraft zu
verkaufen und Mehrwert für den Kapitalisten zu produzieren.
b) Der Jugendliche dient wie andere Schichten der Arbeitenden (Frauen, Gastarbeiter)
dem Kapitalisten dazu, den Wert der Arbeitskraft (der erwachsenen Arbeiter, J.S.) zu
senken.
c) Der Jugendlich dient als Ersatz der ausgepowerten Arbeitskraft und muss ausgebildet
werden.
d) Der Jugendliche ist für das Kapital ein Mittel, Kosten einzusparen und zusätzlichen
Profit zu machen, wie (…) Arbeiter während seiner Lehrzeit unter seinem Wert
bezahlt wird.
e) Der Jugendliche hat für das erwachsene Proletariat eine ambivalente Funktion: er
kann durch Handlangerdienst den Lohn der Erwachsenen erhöhen oder als disponible
Arbeitskraft (Lohndrücker, Streikbrecher) den Lohn der Erwachsenen senken.“
Daneben brachten sich vor allem die Jusos, im sicheren Selbstverständnis mit der
marxschen Klassenanalyse über eine objektive Beurteilungsgrundlage zu verfügen,
in aktuelle kommunalpolitische Themen ein.
Dem heutigen Leser und Zeitgenossen ist die marxsche Theorie und Sprache zumeist
fremd und er wird sich fragen, ob die damals Beteiligten nicht einer dogmatischen
Irrlehre aufgesessen sind. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Weltfinanz- und
Wirtschaftskrise erfährt die marxsche Lehre allerdings eine Renaissance.
Bei vielen der damaligen Akteure vermischt sich heute der Stolz „dabei gewesen zu
sein“ mit einer später Verwunderung, ja Scham, über manche Überdrehung, die sie
sich im „antikapitalistischen“ und „antiautoritären Kampf“ gegen das „Establishment“
geleistet haben.
Im Gedächtnis des Beteiligten haften noch etliche Begebenheiten, die sich aber mangels
schriftlicher Dokumentation nicht gesichert festmachen lassen.
In heutiger Zeit dürfte wohl kein junger Erwachsener für das, was seine Gleichaltrigen
damals zum Protest trieb, seinen Computerplatz verlassen. Auch dürfte das Interesse
an dieser Episode der Geschichte gering sein. Ich fühlte mich aber verpflichtet, einige
Ereignisse der auf- und anregenden „wilden 7oer Jahre“ für geschichtlich Interessierte
festzuhalten.
Ich bedanke mich bei der Gemeinde Ganderkesee, die mir unproblematisch Einsicht
in Unterlagen gewährten. Die Verwaltung des Landkreises Oldenburg tat sich dage7
gen schwerer. Ich erhielt nur Einblick in die Protokolle des Kreistages. Vermutlich
war die Angst vor negativer Berichterstattung zu groß. Eine Unfähigkeit sich souverän
der Vergangenheit zu stellen und dazu zu stehen? Offensichtlich hat die Verwaltung
immer noch nicht die Grundsätze einer demokratischen Informationskultur verstanden.
Gerold Brinkmann, Günter Grote, Peter Gross, Gerd Hutfilter und Rolf Stiening halfen
mir mit kritischen Hinweisen. Ich danke Ihnen dafür.
1.1. Eindrücke von der Verwaltung des Landkreises Oldenburg
Ich erlaube mir, einige meiner Eindrücke als ehemaliger Angestellter (1968 – 1973)
des Kreisamtes des Landkreises Oldenburg (Oldb), damals noch mit Sitz in Oldenburg,
wiederzugeben. Sie sind insofern von Bedeutung, weil sie verdeutlichen, dass die Denk und
Strukturmuster dieser Verwaltung äußerst geeignet waren, das Bild vom „kapitalistischen
Erfüllungsgehilfen und Instrument der Herrschenden“ zu bestätigen.
Das Steckenpferd des damaligen Oberkreisdirektors Dr. Hofmeister war organisationsmanischer
Art, fokussiert auf die Organisation des Kreisamtes. So produzierte er
permanent neue Dienstanweisungen, die bei Nichteinhaltung deutlich sanktioniert
wurden.Die herausragendste Innovation des Dr. Hofmeister war jedoch, dass er den
Kreisamtmann Loose, übrigens ein exzellenter Puppenspieler, mit der Erarbeitung von
Durchschreibevordrucken beauftragt hatte. Um Schreibaufwand zu mindern, sollte
er Formulare so gestalten, dass bei einer Ausfüllung soviel Durchschriften entstanden,
wie sie andere Dienststellen benötigten. Meistens kam zum Ärger der Mitarbeiter
nur Schmierkram dabei heraus. Aber am Ende hatte Loose 1300 schreibmaschinengerechte
Vordrucke entwickelt, wie Dr. Hofmeister stolz in der Presse verlauten ließ.
Den Kreistagsmitgliedern machte er weis, dass diese Rationalisierungsmaßnahme zu
einer erheblichen Kostenminderung geführt habe. Der Kreisausschuss lobte diese organisatorischen
Bemühungen. (NWZ v. 04.12.72) Clevere Mitarbeiter des Landkreises
rechneten jedoch aus, dass der Haushaltsansatz „Papier, Drucksachen, und sonstige
Haushaltsmittel“ allein in einer Abteilung um das 16,5 fache gestiegen war. Eine Information,
die jedoch nur für den internen Hausgebrauch bestimmt war.
Bei Erscheinen des Oberkreisdirektors gingen etliche Mitarbeiter in Hab-Acht-Stellung.
Einer legte sogar die Hand zum Gruß an die rechte Schläfe, was durchaus wohlwollend
aufgenommen wurde. Der Geist der Wehrmacht war noch lebendig.
Die Verwaltung war eingeengt auf die klassische monokratische, obrigkeitliche Ordnungsverwaltung,
mit rigider Kontrolle und Gesetzesauslegung, justiziabler Aktenführung
und mehrgliedriger Hierarchie mit eingeengten Befugnissen. Dahinter verbarg
sich die weitgehende Unfähigkeit, echte Innovationen zu initiieren. Ein demokratischpartnerschaftlicher
Umgang mit Jugendlichen war unvorstellbar. Jugendarbeit war
für Dr. Hofmeister eine der ungeliebtesten Arbeitsfelder. Sobald er wegen Fragen aus
diesem Bereich angerufen wurde, vermittelte er das Gespräch unverzüglich an den
Jugendamtsleiter.
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Die übermäßige Beschäftigung mit Details, Regeln, Organisation, so dass wesentliche
Gesichtspunkte der Aufgabe verloren gehen, ist ein wesentliches Kriterium von pathologischen
Institutionen. ( Siehe: Speckmann, Hermann: Organisationspathologie, in:
Zeitschrift für das Fürsorgewesen, Hannover, 10/2001, 225 — 228)
Unter Mühen war es Kreisjugendpfleger Grote und mir gelungen, die Verwaltung
davon zu überzeugen, dass die Herausgabe eines für die Jugend des Landkreises
bestimmten Mitteilungsblattes sinnvoll sei. Viel schwieriger war es, darin das Erscheinen
eines Beitrages durchzusetzen, das sich mit einer tatsächlichen jugendtypischen
Problematik beschäftigte, dem Haschischkonsum. Nur als Diskussionsgrundlage und
unter meiner Verantwortung sowie Namensnennung als Autor war es möglich, darüber
in der Ausgabe 2/72 zu schreiben. Ansonsten wurden in dem Mitteilungsblatt fast nur
neue Verordnungen und Richtlinien bekannt gegeben. Mehr als zwei Ausgaben überlebte
das Blatt auch nicht. Es war nicht kontrollierbar. Wie hätte man zum Beispiel mit
Leserbriefen umgehen sollen?
Im Bemühen, die Gemeindejugendpfleger des Landkreises über die handlungsanleitende
Theorie der neuen Jugendbewegung zu informieren, lud ich den Pastor Meyer-
Dettum vom Wichernstift zu einem Treffen mit den Gemeindejugendpflegern in
Falkenburg ein. Meyer-Dettum legte ein unerwartet radikales Thesenpapier vor, das
in der Anlage abgedruckt ist. Es spiegelt die damaligen Denkmuster und führte zu heftigen
kontroversen Diskussionen.
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2. Die Auseinandersetzung zwischen dem Landkreis
Oldenburg (Oldb)/Jugendamt und den
Jugendinitiativen
Im folgenden beschreibe ich – aus meiner Sicht – wie Jugendliche/Heranwachsende aus dem
Landkreis Oldenburg, inspiriert durch die 68er Bewegung, versuchten, gegen verhärtete, vergangenheitsbezogene
Strukturen selbstverwaltete Jugendeinrichtungen zu installieren.
2. 1. Der hoffnungsvolle Anfang
Der erste hauptamtliche Jugendpfleger des Landkreises Oldenburg (Oldb), Bürger, kündigte
nach wenigen Monaten Tätigkeit sein Arbeitsverhältnis zum 31.12.1967. Grund:
Ungünstige Arbeitsbedingungen.
Während der Mitgliederversammlung des Kreisjugendrings Oldenburg-Land im April
1968 in Gut Altona wurde der neue Kreisjugendpfleger Hermann Speckmann (Sozialarbeiter)
vorgestellt. Befragt nach seinen Aufgaben in der Kreisverwaltung, musste auch
er einräumen, er wisse noch nicht, wie viel Zeit er für dieses Amt erübrigen könne.
(Oldenburger Volkszeitung 30.04.1968) Die Delegierten waren darüber so erbost, dass
sie beschlossen, dem Jugendwohlfahrtsausschuss (JWA) aus der Erkenntnis heraus,
dass die Arbeit des Jugendpflegers von der Verwaltung nicht genügend gestützt würde,
einen Antrag vorzulegen, in dem die Landkreisverwaltung gebeten wird „ den Kreisjugendpfleger
in größerem Umfang für die eigentliche Kreisjugendpflege frei zustellen
und ihm alle finanzielle und zeitliche Bewegungsfreiheit einzuräumen, die für eine
selbständige Tätigkeit im Kontakt mit den Jugendlichen erforderlich ist.“ (DK und
NWZ v. 29.04.1968)
Der Jugendamtsleiter Kreisamtmann Alfred Lünemann erklärte dazu im JWA, dass der
jetzige Jugendpfleger etwa zur Hälfte in der Jugendpflege und im übrigen in der Erziehungshilfe
mit eingesetzt sei. Da vorher die Aufgaben des Kreisjugendpflegers (durch
den Lehrer Edmund Gauer, Beauftragter für die Berlin-Fahrten) nur ehrenamtlich
wahr genommen worden seien, stelle die jetzige Regelung eine echte Verbesserung dar.
Der anwesende Vorsitzende des Kreisjugendringes, Hauptlehrer Seltenreich, erläuterte,
dass eine größere Beweglichkeit des Jugendpflegers erwünscht sei. Diese sei dadurch
gegeben, dass für den Außendienst jederzeit ein Kraftfahrzeug zur Verfügung stehe,
erklärte Lünemann. Nach dieser Mitteilung teilten die Mitglieder des JWA einhellig
die Auffassung, dass von einer Empfehlung des JWA an den Kreistag, die Jugendpflege
zu intensivieren, abgesehen werden könne.
Unter der Überschrift „Kreis jugendpflegerisch rückständig“ berichtete die NWZ vom
24.07.1968 von einer Sitzung des Wildeshauser Stadtjugenringes, in der wenig Verständnis
für die Ablehnung des oben behandelten Antrages des Kreisjugendringes
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geäußert wurde. Der Vorsitzende, Heinz Pospeschill, erklärte, dass der Landkreis in
jugendpflegerischer Hinsicht sehr rückständig sei und sprach die Hoffnung aus, dass
sich der bisherige Verschleiß des Landkreises an Jugendpflegern nicht in die Zukunft
fortsetze.
2. 2. Zeitschrift der Jusos
Ab 1971 gaben die Jusos im Landkreis eine Zeitschrift „juso-krit“ heraus. In „juso-krit“
3/71 wurden die Titel der in dem Jahr zu veranstaltenden Seminare angegeben:
Wirtschaftstheorie/Grundbegriffe und Kritik des Kapitalismus. Aktionsmodelle in der
Kommunalpolitik und Lehrlingsausbildung.
In der genannten Ausgabe wurden die Mitglieder aufgefordert, auf die Einrichtung weiterer
Spielkreise als Vorstufen für den Kindergarten hinzuwirken.
In „juso-krit“ 12/72, Nr.5, Jahrgang 3 werden die Redaktionsmitglieder genannt:
Klaus Müller, Hundmühlen; Martin Waack, Ganderkesee; Henning Ammann, Hude;
Karl-Heinz Ziessow, Hurrel.
Die Jungsozialisten in der „Initiativgruppe Jugendzentrum Wildeshausen“
veröffentlichten in der zuletzt genannten Ausgabe einen Beitrag mit dem Titel:
„Sozialistische Politik in der Kleinstadt und „auf dem flachen Lande“
Da er einen Einblick in die damalige Denkweise und Sprache vermittelt, wird er vollständig
wiedergegeben:
„Wir Jungsozialisten verfolgen in unserer Strategie das Ziel, der Bevölkerung derart konkrete
gesellschaftliche Missstände bewusst zu machen, dass sie den Widerspruch zwischen ihrem
eigenen Interesse und dem einer kleinen Minderheit von wirtschaftlich Mächtigen erkennt und
diesen aufzuheben anstrebt.
In diesem Zusammenhang ist unsere Aktivität im jugendpolitischen Bereich zu sehen. Hier,
im Landkreis Oldenburg, zeigt sich das Engagement z. B. in der außerschulischen Jugendarbeit,
in der neue, emanzipatorische Inhalte verwirklicht werden sollen.
Wir unterstützen Initiativen Jugendlicher (oder regen sie an), Jugendzentren zu errichten und
in Eigenverantwortung die inhaltliche Arbeit in diesen zu organisieren. In diesen Zentren ist
u.u. die Chance gegeben, sich dem Einfluß der Bewusstseins- und Freizeitindustrie zu entziehen,
die darauf abzielen, dem Menschen seine Entsagungen während der Arbeitszeit in der
Freizeit zu ersetzen. Diese „Entschädigung“ ist nur eine Spielart der Verschleierungstaktiken
in unserer klassenstrukturierten Gesellschaft; sie ist ein Mittel, die demokratische systemüberwindende
Entwicklung aufzuhalten.
Was bedeutet dies für die politische Arbeit der Jugendzentren?
Man muß in diesen „gesellschaftlichen Freiraum“ Jugendzentren den Einzelnen aus seiner Isolierung
befreien, indem man ihm seine eigenen, individuellen Probleme verständlich macht als
Ausdruck unserer Gesellschaft, die eine Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung unmöglich
macht. (Konflikte in Betrieb, Schule, Elternhaus; Verhinderung bedürfnisgerechter Befriedigung,
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z.B. im Bereich der Sexualität).
In dem Bemühen, diese und andere Unterdrückungsmechanismen zu erkennen und in der
eigenen Gruppe gemeinsam abzubauen, wird die Solidarität untereinander dann von großer
Bedeutung, wenn man nicht bloß in Jugendzentren Herrschaft von Menschcn über Menschen
abgeschafft sehen will, sondern auch am Arbeitsplatz oder in der Erziehung, Jetzt ist es Aufgabe
der Jungsozialisten, eine wirklichkeitsnahe Perspektive den bereits „Anpolitisierten“ in
ihrem Kampf zu eröffnen und gemeinsam Aktionen durchzuführen.
Um dem hier formulierten Anspruch auch in der Praxis gerecht werden zu können, wollen
wir nicht bloß in Wildeshausen vor uns hinwursteln, sondern regelmäßigen Informationsaustausch
zwischen Gruppen anzuregen, die ähnlich wie wir auf der Suche nach neuen, emanzipatorischen
Konzepten der Jugendarbeit in Theorie und Praxis sind. Aus diesem Grund ist
eine Konferenz für Januar 73 angesetzt, auf der Konflikte linker Jugendarbeit von Gruppen aus
Diepholz, Ströhen (Kreis Grafschaft Diepholz), Vechta, Harpstedt, Hude und Wildeshausen
analysiert werden sollen. Sozialpädagogen der Uni Bremen wollen uns unterstützen. – Hiernach
werden die oben angeführten Theorieansätze wohl praxisbezogener aussehen!“
Der Sprecher für die „Initiative für ein Jugendzentrum in Wildeshausen“, Gerd Jacoby,
stellte fest, dass die Gruppe nicht identisch mit der Landkreisgruppe und auch nicht
abhängig von den Zielen politischer Verbände sei. „Allein daraus, dass Mitglieder sich
auch politisch betätigen, würde geschlossen, dass auch die Gruppe gleiche Absichten
verfolge.“ (NWZ v.15.05.1972)
Ab 30.09.1969 gab Speckmann auf eigenem Wunsch seine Halbzeittätigkeit als Kreisjugendpfleger
auf und übernahm andere Tätigkeiten aus dem Aufgabenspektrum des
Jugendamtes (bes. Erziehungshilfe). Er gab auf, weil er keine Möglichkeit einer qualifizierten
Jugendpflege sah. Sein Nachfolger wurde ab 01.10.1969 der Sozialarbeiter
Günter Grote. Die Hälfte seiner Arbeitszeit war dieser jedoch für die Aufgaben der
Jugendgerichtshilfe zuständig.
2. 3. Literaturliste als Konfliktauslöser
Am 22./23.01.1972 veranstaltete Kreisjugendpfleger Grote ein Seminar über Gruppenpädagogik.
Zu dieser Veranstaltung meldeten sich so viele Interessenten, dass eine
Grup pe gebildet wurde, die sich mit dem Thema „Theorie einer modernen Jugendarbeit“
befasste. Die Teilnehmer an dieser Gruppe wollten sich weiter unter der Leitung
von Joachim Rogoß vom Jugendhof Steinkimmen mit dem Thema beschäftigen. Da
die vorher benutze Tagungsstätte keine Räume mehr zur Verfügung hatte, beantragte
diese Gruppe, fortan „Initiativgruppe Jugendarbeit“ genannt (Kontaktadresse Harald
Cordes, Wardenburg), beim Jugendamt eine finanzielle Unterstützung zur Durchführung
des Seminars in privaten Räumen.
Dann wurde als neuer Tagungsort die Jugendherberge in Oldenburg gefunden. Eine
Bezuschussung lehnte der Oberkreisdirektor Dr. Hofmeister nun mit der Begründung
der Einseitigkeit ab: Der Gleichheitsgrundsatz und die politische Ausgewogenheit seien
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nicht gegeben. Vordem war als Begründung für die Nichtbezuschussung angegeben
worden, dass für diese Zwecke kein Geld zur Verfügung stünde. Der Verdacht der Einseitigkeit
kam auf, weil in dem Seminar Texte marxistischer Autoren verwandt worden
waren.
Der Mitarbeiter des Jugendhofes Steinkimmen, Joachim Rogoß, hatte folgende Literaturvorschläge
für die Verwendung in den Seminaren (Thema: Antikapitalistische
Jugendarbeit) angegeben:
• Giesecke: Jugendarbeit,
• Roger, Gerhard: Die pädagogische Bedeutung der proletarischen Jugendbewegung
Deutschlands, Verlag Roter Stern, Frankfurt,
• Reiche, Helmut: Sexualität und Klassenkampf, Verlag Neue Kritik, Frankfurt,
• Haensch, D.: Repressive Familienpolitik, rororo.
Anmerkung des Verfassers:
Das war zuviel Antikapitalismus. Wie weiter unten berichtet, wurde diese Literaturliste
zukünftig als Munition gegen die Intentionen der Mitglieder der Initiativgruppen für selbstverwaltete
Jugendzentren und der Jusos verwandt. Da nur die wenigsten Mitglieder der Initiativgruppen
Mitglieder der Jungsozialisten waren, traf es auch Jugendliche, die kein Interesse
an so genannter „antikapitalistischer Jugendarbeit“ hatten, sondern nur einen Treffpunkt für
Gleichaltrige organisieren wollten. Die Verwaltung handelte nach dem Motto: Wer eine Bibel
liest, ist Christ, wer das Kapital liest, ist Kommunist.
Ebenso wurde die Bezuschussung einer Veranstaltung, die die „Initiativgruppe Jugendarbeit“
zwischenzeitlich durchgeführt hatte, abgelehnt, da der Landkreis nicht Träger
der Veranstaltung war.
Die „Initiativgruppe Jugendarbeit“ erstellte eine mehrseitige Dokumentation des
Konflikts und sandte diese auch mit der Bitte um ein Gespräch u.a. an den Landesjugendring,
das Kultusministerium, die Arbeitsgemeinschaft der Jugendämter und die
SPD-Fraktion des Landkreises. Von letzterer erhielt sie keine Antwort.
2. 4. Auch Kreisjugendpfleger Grote gibt auf
In der Sitzung des JWA am 23.03.1972 beschäftigte dieser sich mit dem Inhalt der
Dokumentation der Initiativgruppe. Eine Anhörung von Vertretern der „Initiativgrup
pe für Jugendzentren“ lehnte der Ausschuss ab, nachdem diese fast zwei Stunden
gewartet hatten. Die Möglichkeit der Anhörung wurde kurz vorher neu im Nds. Ausführungsgesetz
zum Jugendwohlfahrtsgesetz normiert.
In dieser Sitzung legte Grote einen sechsseitigen Bericht vor, in dem die Gründe dargelegt
wurden, die eine sinnvolle Jugendpflege im Landkreis Oldenburg (Oldb) behinderten.
In dem Schlusssatz des Berichts heißt es:
„Wenn die Verwaltung ihre Strukturen im benannten Sinne nicht ändern kann oder
ändern will, sehe ich nicht die Möglichkeit, das z. Z. eine sachgerechte Jugendpflege
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im Landkreis Oldenburg (Oldb) betrieben werden kann Die Einstellung eines Jugendpflegers
unter den augenblicklich gegebenen Voraussetzungen halte ich sowohl für die
Verwaltung als auch für den Jugendpfleger nicht für sinnvoll und zweckmäßig.“
Der JWA brachte es demgegenüber fertig, in einer von der Verwaltung ausgearbeiteten
Presseerklärung, sich so zu äußern: Dass, das Jugendamt des Landkreises Oldenburg
bisher eine in jeder Hinsicht aufgeschlossene und positive Jugendarbeit geleistet hat.“
(DK v. 04.04.1972)
Den Mitgliedern des JWA stand nach den gesetzlichen Grundlagen ein allgemeines
umfassendes Informationsrecht zu. Die Jusos machten schriftlich die SPD-Mitglieder
im JWA darauf aufmerksam, dass sie zum Beispiel eine Anhörung des Kreisjugendpflegers
im JWA beantragen könnten. Es erfolgte keine Reaktion von der SPD.
Anmerkung des Verfassers:
Die Angehörigen des JWA wagten keine Konfrontation mit der Verwaltung. Überdies ließen
sie sich offensichtlich durch tendenzielle und selektive Informationen und andere Tricks der
Verwaltung manipulieren.
Beispiele:
• Durch Erhöhung der Tagesordnungspunkte. Die Sitzung des JWA vom 23.03.1972 umfasste
20 Punkte. Durch den Zeitdruck minderte die Verwaltung unliebsame Nachfragen.
• Nach dem damals geltenden Jugendwohlfahrtsgesetz musste das Jugendamt mindestens
sechs Mal im Jahr zusammentreten. Tatsächlich geschah dies im Landkreis Oldenburg zweibis
dreimal.
• Nach der Satzung des Jugendamtes musste der Oberkreisdirektor vor Bestellung eines neuen
Kreisjugendpflegers im JWA Stellung nehmen. Dies geschah nicht einmal.
Grote schlug vor, den Mitgliedern des JWA ein Papier mit ihren Beteiligungsmöglichkeiten
in die Hand zu geben. Dies wurde nach dem Eindruck von Grote von der Verwaltung
verhindert, um die Mitglieder „nicht zu schlau zu machen.“
Der Vorstand der Landjugendgruppe Benthullen-Harbern, Willi Schulz, forderte in
einem Leserbrief, „dass Jugendpflege sich primär außerhalb der Büros in direkten Kontakt
mit einzelnen Jugendlichen und den Jugendgruppen abzuspielen hat.“ „Wenn
wir diese Arbeitsweise die vergangenen Jahr praktiziert hätten, wäre es nicht möglich
gewesen, dass in vier Jahren vier Jugendpfleger ihre Stellen aufgeben hätten, ohne
dass die Öffentlichkeit über ihre negativen Arbeitsbedingungen, die zu ihrem Rücktritt
führten, erfahren hat.“ (NWZ v. 06.04.1972)
Zum 15.04.1972 kündigte Grote sein Vertragsverhältnis. Die Anstellungsbedingungen
ließen für ihn keine befriedigende Jugendarbeit zu.
In der Stellenausschreibung für den neu einzustellenden Kreisjugendpfleger wurde
erwartet, dass er Ideen für eine lebendige Jugendarbeit habe, Eigeninitiative und ein
selbstständiges jugendförderndes Wirken, insbesondere im Bereich der offenen Jugendarbeit,
zeige.
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2. 5. Intermezzo Lovis
Der in die Wahl genommene Nachfolger als „halber“ Kreisjugendpfleger war Herr
Lovis. Nach einem Gespräch mit dem Jugendamtsleiter Amtmann Lünemann zog er
seine Bewerbung zurück, weil er den Stellenwert der Jugendpflege im Kreisamt als
unvertretbar ansah. (NWZ v. 21.03.72) Es war der vierte Kreisjugendpfleger, der Aufgab.
Der Oberkreisdirektor erklärte dazu in einer Pressenotiz: „Wir legen auch keinen Wert
mehr auf einen Dienstantritt von Herrn Harald Lovis, denn wir merken sehr wohl,
woher der Wind bei diesem weht.“ (Oldenburger Volkszeitung v. 24.03.1972)
Anmerkung des Verfassers:
Woher wehte er denn?
Es dürfte die paranoide Angst vor kommunistischer Unterwanderung gewesen sein.
Lovis fertigte von dem Gespräch mit dem Leiter des Jugendamtes ein Protokoll an.
Daraus Auszüge von Aussagen Lünemanns: Die Jugendarbeit sei nur ein ganz kleiner
Teil des Kreisamtes und stehe ganz am Ende. Der Oberkreisdirektor habe ein andres
Gebiet, auf dem er tätig sei: Die Organisation des Amtes. Wer hier arbeiten wolle,
müsse sich anpassen, sonst solle er lieber bleiben, wo er her gekommen sei.
Deutlich wurden in dem Gespräch insbesonders die administrativen Beschränkungen:
Überwiegend Verwaltungstätigkeit, Dienstwagenbenutzung, Steckuhr.
2. 6. Auseinandersetzung der Initiativgruppen mit dem Kreisjugendring – Der
Pressekrieg
Zehn Jugendgruppen stellten im April 1972 beim Kreisjugendring den Antrag, eine
Sondersitzung des Kreisjugendringes einzuberufen, die sich mit der Kritik der Initiativgruppen
bezüglich der Jugendarbeit im Landkreis befassen sollte. Der Gesamtvorstand
beschloss, die Entscheidung über die Anträge der Mitgliederversammlung zu überlassen.
Der Vorsitzende des Kreisjugendringes, Oberfeldwebel Dieter Sejtka, Kandidat der
FDP zur Wahl des Rates der Stadt Wildeshausen, informierte den Vorstand über die
von einem Mitarbeiter des Jugendhofes Steinkimmen benannte Literatur für die Seminare
der Initiativgruppe (siehe oben) und meinte, damit habe sie selbst das Material
geliefert, nach dem sie beurteilt und behandelt werden würde! (NWZ v. 25.04.1972)
Sejtka erklärte im Vorstand des Kreisjugendringes, dass die „strategischen Grundsätze
dieser Gruppe wohl bekannt“ seien. Dazu zählte er:
• Kompromisse müssten zur Agitation ausgenutzt werden.
• Um den Charakter des Systems zu entlarven, müssten ständig Konflikte geschaffen
werden, die jedem Jugendlichen einsichtig sein sollten, um Solidarisierung zu erzeugen.
(Leserbrief, NWZ v. 24.08.1972)
Anmerkung des Verfassers:
Sejtka hatte offenbar die Jugendinitiativen als kommunistische Tarnorganisation erkannt.
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Am 23.06.1972 veranstalteten die Jusos des Unterbezirks Oldenburg-Land eine von
ca.70 Jugendlichen besuchte öffentliche Podiumsdiskussion in Wildeshausen im
„Hotel Stadt Bremen“ über den Stand der Auseinandersetzung. Amtmann Lünemann
sagte kurz vor der Veranstaltung durch fernmündliche Mitteilung an einen Juso seine
Teilnahme mit der Begründung ab, dass er keine unpolemische Diskussion von den
Jusos erwarte, nachdem auch der Vorsitzende des Kreisjugendringes, Sejtka, abgesagt
hatte, weil in der Einladung Disco-Besitzer als „Profitgeier“ bezeichnet worden waren.
Der Geschäftsführer des Landesjugendringes Niedersachsen Winters stellte in der Veranstaltung
in einem Kurzreferat über behördliche Jugendarbeit die rechtlichen Grundlagen
vor. Er betonte, dass die Jugendarbeit sich an den Interessen der Jugendlichen
zu orientieren habe und Zuwendungen für Veranstaltungen nicht davon abhängig
gemacht werden könnten, ob sie dem Kreisjugendring angehörten. „Die Situationsanalyse
ergebe dagegen ein frappierendes Bild: Der Jugendarbeit werde nur ein geringer
Rang im Prioritätenkatalog zugebilligt, z.B. werde dafür lediglich ein Bruchteil der
Mittel ausgeschüttet, die für Erwachsenenbildung und Sporthilfe aufgewendet würden.“
Kritisiert wurde das Verhalten des Kreisjugendringvorsitzenden, der nach Aussagen
verschiedener Sprecher „einsame Entscheidungen getroffen habe“, ohne weitere Vorstandsmitglieder
oder den Kreisjugendring zu befragen.“ Bei wenigen Enthaltungen
stellten sich die Teilnehmer hinter die Forderung dringend die Arbeitsbedingungen
des Kreisjugendpflegers zu verbessern. (NWZ v. 29.06.1972)
Teilnehmer dieser Veranstaltung verfassten danach eine Resolution, die u.a. die Forderung
nach Erstellung eines Kreisjugendplans unter Beteiligung der Jugendlichen und
die Einstellung eines Jugendpflegers durch den Kreisjugendring enthielt. So hoffte man,
dass er entsprechend der Interessen der Jugendlichen agieren könnte.
Eine Reaktion der SPD, die auch die Resolution erhielt, dazu wurde nicht bekannt. Auf
ein Schreiben an die SPD-Kreistagfraktion, in dem die Jusos beklagten, dass kein Vertreter
der SPD-Kreistagsfraktion an der Podiumsdiskussion teilgenommen hatte, erhielten
sie keine Antwort. Nur der Juso-Unterbezirksvorsitzende Ekkehard Seeber und der
Wildeshauser Bürgermeister Weinrich unterstützten die Jusos in der Sitzung, bewirkten
aber keine weitere Unterstützung.
Die Jusos fragten beim Oberkreisdirektor an, ob er die Äußerung von Amtmann Lünemann,
dass mit den Jusos kein Gespräch ohne Polemik möglich sei, billige. Er antwortete,
dass er eine entsprechende Haltung billigen würde, Lünemann habe jedoch „eine
solche generelle Äußerung nicht getan.“
Der Landesjugendring sprach in einer Stellungnahme zu den Ereignissen im Landkreis
Oldenburg davon, dass dort die Jugendpflege als eine Aufgabe verstanden werde, junge
Menschen ohne Widerspruch in die bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen einzuordnen.
In der Versammlung vom 23.06.1972 forderte der Gemeindejugendpfleger von Hude,
Bruno Benz, die Parteien auf, den Pressekrieg einzustellen. Dem wurde allgemein zugestimmt.
Am 03.08.1972 meldete sich Sejtka in der NWZ, entgegen dieser Vereinbarung,
mit einem ausführlichen Interview zu Wort.
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In der Mitgliederversammlung des Kreisjugendringes am 08.08.1972 in Gut Moorbeck,
an der neben Mitgliedern der Initiativgruppe auch die SPD-Funktionsträger Fritsche
und Seltenreich teilnahmen, trug Sejtka einen Tätigkeitsbericht vor, der im wesentlich
die Auffassung der Verwaltung wiedergab. Er gab vor, die heile Welt des Kreisjugendringes
vor parteipolitischen Intrigen zu bewahren, die demokratische Grundordnung
zu verteidigen und malte das Gespenst einer kommunistischen Kaderschmiede an die
Wand.
Als der Vorsitzende des Kreisjugendringes nach der Diskussion die Teilnehmer befragte,
wer seinen Tätigkeitsbericht billige, meldete sich ein Teilnehmer.
Anmerkung des Verfassers:
Angesichts dieses Ergebnisses wäre ein Rücktritt ehrenhaft gewesen. Obwohl Fritsche und
Seltenreich in dieser Veranstaltung hautnah die Stimmungslage der Jugendlichen und Heranwachsenden
erfuhren, entwickelten sie daraus keine Impulse zur Unterstützung ihrer Forderungen.
Was mögen die Gründe für die Verweigerungshaltung der SPD gewesen sein?
1. Sie hat die Sprache der Jusos nicht verstanden, war daher sprachlos und konnte argumentativ
darauf nicht reagieren. Dann lieber stillhalten und abwarten. Die SPD hatte, zumindest
auf Kreisebene, den Kontakt zu ihrem Ursprung verloren und sich zu einer bürgerlichen
Parteiformation entwickelt.
2. Ihr waren die Aktivitäten der Jusos peinlich, ja sie hatte Angst davor, weil sie damit in die
Nähe zu den Kommunisten gerückt wurde. Einige werden die Jusos auch als Kommunistische
Tarnorganisation gesehen haben. Vielleicht waren sogar Unterstützer der Bader-Meinhof-
Bande darunter. Das alles konnte Wählerstimmen kosten.
Sejtka stimmte selbstherrlich vorbehaltlos der Position des Kreisamtes zu und stimmte sich
immer eng mit dem Amtsleiter und Oberkreisdirektor ab.
Diese Haltung wurde in einem Leserbrief von Manfred Andrzejewski, Mitglied des
Gesamtvorstandes des Kreisjugendrings, kritisiert. Er fragte, woher Sejtka das Recht
nehme, für den Kreisjugendring Stellungnahmen abzugeben, obwohl sich dieser noch
nicht mit dem Thema beschäftigt habe. „Wir haben den Eindruck, dass Sie ihre Aufgaben
als Vorsitzender des Kreisjugendringes darin sehen, ihre eigenen Vorstellungen mit
denen des Kreisjugendamtes gleichzustellen.“ Ferner wurde in dem Leserbrief kritisiert,
dass bei der Wahl des Vertreters des Kreisjugendringes im JWA die Mitglieder von Sejtka
vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. (NWZ v.30.08.1972)
Sogar die Junge Union, Ortsverband Wildeshausen, kommt als Reaktion auf eine Stellungnahme
von Sejtka zum Vorschlag der Jungen Union zur Einrichtung eines Jugendparlaments,
in einem Leserbrief zu dem Schluss: „Herr Sejtka sollte als KjR-Vorsitzender
Vorschläge, die ordentlich eingebracht werden, nicht sofort durch unsachliche Zeitungsartikel
abwürgen, sondern … das Gespräch mit den Jugendlichen suchen …“ Und
weiter: „Zu weiteren Äußerungen von Herrn Sejtka werden wir nicht mehr Stellung
nehmen, da er sich nicht sachlich mit Jugendgruppen auseinandersetzt, die nicht seine
Meinung vertreten, sondern lediglich versucht, durch Polemik für sich Stimmung zu
17
machen.“ (NWZ v. 30.08.1972)
Anmerkung des Verfassers:
Für die Kreisverwaltung war Sejtka ein wertvoller Verbündeter ihrer Auffassungen, als Vertreter
damaliger Jugendinteressen, insbesondere hinsichtlich der Förderung selbst organisierter
Jugendarbeit, ein Verhängnis.
2. 7. Eine entlarvende Peinlichkeit
Auf einer Vorstandssitzung mit Pressekonferenz des SPD Unterbezirks Oldenburg-Land
am 12. 07.1972 in Falkenburg legte der Vorstand ein Papier „Kommunalpolitische Aufgaben
im Landkreis Oldenburg“ vor, in dem u.a. der Ausbau von Erziehungsberatungsstellen,
Bau von Jugendheimen und die Förderung der Jugendarbeit im Rahmen eines
Sozialplanes im Zuständigkeitsbereich des Sozialamtes gefordert wurde.
Anmerkung des Verfassers:
Damit wurde die Ahnungslosigkeit der SPD in sozial- und jugendpolitischen Fragen vollends
offenbar: Die angesprochenen Aufgaben gehörten in die Zuständigkeit des Jugendamtes.
Für die Mitglieder der Initiativgruppen und der Jusos war damit klar ersichtlich, dass sich niemand
von der Führung der SPD ernsthaft mit den Anregungen der Jusos und den Problemen
der Jugendlichen befasst hatte, und hier nur eine oberflächliche Schaumschlägerei, deren Folgenlosigkeit
abzusehen war, veranstaltet wurde.
2. 8. Landesjugendring berichtete über die Vorgänge im Landkreis
Im Mitteilungsblatt „Info 13“ vom 01.09.1972 des Landesjugendringes Niedersachsen
wurde ein Beitrag mit dem Titel: „Im Kreuzfeuer der Kritik: Jugendpflege im Landkreis
Oldenburg“ veröffentlicht, in dem der Ablauf der Auseinandersetzung dargestellt
wurde. Der Beitrag umfasste eine Seite und war mit „Aro“ unterzeichnet. Der Inhalt
wurde in dem vorliegenden Text eingearbeitet.
In der Folgezeit wurde der Bericht von „Juso-krit“ 12/72 nachgedruckt und Fotokopien
weit von Hand zu Hand verbreitet. Die Kreisverwaltung vermutete als Autor des für
sie sehr ärgerlichen Beitrages einen Mitarbeiter des Jugendhofes Steinkimmen. Das traf
nicht zu.
Im JWA beklagte die Verwaltung dennoch die „dubiose Rolle“ des Jugendhofes. Dieser
sei offenbar Kristallisationspunkt der Jugendinitiativen. Daher solle die Arbeit des
Jugendhofes kritisch beobachtet werden, und es erhebe sich die Frage, ob die Einrichtung
weiterhin vom Landkreis Oldenburg gefördert werden solle.
Wohl im Auftrag des Landkreises forderte Sejtka den Geschäftsführer des Landesjugendringes
auf, Name, Ort und Tätigkeit des Autors des oben genannten Beitrags in der
Jugendeinrichtung zu nennen, was dieser ablehnte. Er eröffnete Sejtka die Möglichkeit
der Gegendarstellung, die dieser aber nicht nutzte.
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Im Oktober 1972 fand eine Podiumsdiskussion im Schützenhof Neerstedt zwischen
Vertretern der Kreistagsfraktionen, des Kreisjugendamtes, des Kreisjugendringes und
verschiedener Jugendorganisationen statt. Fritsche, SPD-Fraktionsvorsitzender im
Kreistag, hielt ebenso wie der Fraktionsvorsitzende der CDU, Alfred Thole, und Eilert
Tantzen, der stellvertretende FDP-Kreisvorsitzende, den Initiativgruppen vor, „sie
hätten ihre Forderungen zu wenig an den Gegebenheiten der Verwaltung orientiert.“
(NWZ v.10.10.1972)
Anmerkung des Verfassers:
Wenn man sich schon so verständnislos-arrogant äußerte, warum boten diese Herren dann
nicht Ihre Vermittlung, vielleicht sogar ihre Hilfe an?
In § 1 des damals geltenden Jugendwohlfahrtsgesetzes wird als Aufgabe des Jugendamtes
genannt: Es soll die eigenverantwortliche Tätigkeit der Jugendverbände und Jugendgemeinschaften
unter Wahrung ihres satzungsgemäßen Eigenlebens fördern.
Im Januar 1973 gründeten die Jusos zwei Projektgruppen, eine für die Weiterentwicklung
der Gesundheitsförderung, zuständig Klaus Müller, Hundsmühlen, und der Entwicklung
der Jugendarbeit, zuständig Martin Waak, Elmeloh, der gleichzeitig Vertreter
der Jusos im Kreisjugendring war. Pressesprecher war Manfred Andrzejewski, Wildeshausen,
Vertreter der Jusos gegenüber der SPD war Henning Ammann, Hude. Peter
Groß, Bookholzberg, komplettierte den aus fünf Mitgliedern bestehenden Vorstand.
2. 9. Eine wundersame Wandlung?
Anlässlich einer Bürgerversammlung zum Thema „Jugendarbeit in der Gemeinde Dötlingen“
betonte nach dem Zeitungsbericht vom 14.03.1973 Sejtka, das Zukunftsprojekt
Nr.1 für die Gemeinde Dötlingen müsse ein Jugendzentrum für die offene Jugendarbeit
sein. Und weiter: Sejtka bat den Gemeinderat kein „Abhängigkeitsverhältnis von der
Gemeindeverwaltung“ zu schaffen. „Bei der Bereitstellung von Mitteln müsse der Wille
der Jugend zur Selbstverwaltung berücksichtigt und beachtet werden. Selbstverwaltung
ist kein Modewort, sondern Realismus, betonte er.“
Anmerkung des Verfassers:
Sehr verwunderlich. Späte Einsicht oder Opportunismus?
2. 10. Geforderte Anpassung an bürokratisch-rechtliche Strukturen
Ab 1974 beantragten etliche „Initiativgruppen Jugendarbeit“ aus Orten des Landkreises
beim Jugendamt die öffentliche Anerkennung ihrer Förderungswürdigkeit. Diese wurde
mit Hinweis darauf, dass die im Runderlass des Nds. Kultusministers vom 05.04.1965
genannten Richtlinien nicht erfüllt würden, zurückgestellt. Den Initiativgruppen wurden
vom Jugendamt Mustersatzungen übersandt und sie wurden aufgefordert, sich
19
ein Statut ähnlicher Art zu geben. Vor allem sollte daraus erkennbar werden, welche
voll geschäftsfähige Person für die Gruppe rechtswirksame Erklärungen im Sinne des
Bürgerlichen Gesetzbuches abgeben kann. Das Kreisamt beanstandete gegenüber der
„Initiativgruppe Jugendarbeit“, dass die „Jugendlichen ohne verwaltungsgemäße Schemata“
handeln würden (!) Auf gewissen unabdingbaren Ordnungsleitsätzen müsse
man bestehen. (!)
Das Argument der Initiativgruppen, dass das Jugendamt sich an den Möglichkeiten der
Jugendlichen zu orientieren habe und nicht umgekehrt, wurde nicht akzeptiert.
Die Initiativgruppe „Jugendzentrum Huntlosen“ teilte mit, dass sie nicht die Absicht
habe, sich die vorgeschlagene vereinsrechtliche Struktur zu geben. Dazu aus dem Protokoll:
„Die Einfallslosigkeit des Kreisjugendamtes in Bezug auf Jugendzentren zeigt sich auch
daran, dass die Anerkennung der öffentlichen Förderungsmöglichkeit für Jugendgruppen
davon abhängig gemacht wird, dass sich die Jugendgruppen die strenge Organisationsform
eines herkömmlichen Vereins geben sollen. Durch dieses enge Korsett von
Statuten, Satzungen, Geschäftsordnungen und dergleichen wird nur erreicht, dass die
ursprüngliche Spontaneität und Lebendigkeit der Jugendgemeinschaften unterdrückt
wird.“
2. 11. Erfolge und Lösungsversuche
Die Juso-Gruppe Großenkneten erreichte durch die Initiative von Heiner Buhlrich,
dass in dieser Gemeinde das erste Jugendzentrum in Huntlosen eröffnet werden
konnte. (Faß, Dirk: Der SPD-Ortsverein Großenkneten, Oldenburg 2006, 71/72)
Ein inzwischen gegründeter „Dachverband der Jugendzentren im Landkreis Oldenburg“
versuchte offenbar die rechtlichen Probleme für die örtlichen Initiativgruppen zu lösen,
indem er dem Jugendamt eine Satzung vorlegte.
Zum Zweck des Dachverbandes heißt es:
„Der Dachverband regt die Selbstorganisation der Jugendlichen in Bezug auf Ihre Freizeitgestaltung
an und fördert sie, soweit sie gemeinnützigen Zwecken dienlich ist. Insbesondere
unterstützt der Dachverband die Einrichtung von offenen Jugendzentren.
Der Dachverband koordiniert die Tätigkeit seiner im Landkreis Oldenburg tätigen Mitgliedsgruppen
und vertritt deren gemeinsames Interesse nach außen.“
2. 12. Rhetorik der SPD
Im August 1974 beschloss die SPD-Kreistagsfraktion, den kommunalpolitischen Ausschuss
des SPD-Unterbezirks zu beauftragen, unter Federführung von Hans-Christian
Schack ein Diskussionspapier über die Aufstellung eines Jugendplanes für den Landkreis
Oldenburg zu erarbeiten. Die Fraktion rief alle Jugendlichen und Jugendgruppen
im Landkreis Oldenburg auf, das Thema Jugendplan zu diskutieren und Wünsche und
20
Anregungen der SPD-Kreistagsfraktion mitzuteilen. (NWZ v. 30.09.1974) Auf derartige
Aufrufe dürften kaum Jugendinitiativen reagiert haben, da sie bereits erfahren hatten,
dass eine etwaige Beteiligung im politischen Sumpf untergehen würde.
Verbal trat die SPD auf Kreisebene aber immer noch für Jugendzentren ein. Vollmundig
forderte sie, wie eben gesagt, u.a. nach dem Altenplan einen Kreisjugendplan. Der
Vorsitzende des SPD-Kreisverbands Manfred Beier: „Bei der Einrichtung von Jugendzentren
sind Formen der Selbstorganisation und Selbstverwaltung junger Menschen
besonders zu fördern. Bars und Diskotheken mit ihrem Konsumzwang bieten herzu
keine Alternativen.“ Der Stellvertretende Fraktionschef der SPD-Kreistagfraktion Heiko
Jünger „begrüsste in diesem Zusammenhang die Bemühungen der Initiativgruppen
für Jugendliche im Landkreis Oldenburg, die Jugendarbeit zu intensivieren.“ (NWZ v.
30.09.1974)
Der damalige Kreistagsabgeordnete Hans-Christian Schack sagte, man „solle sogar froh
darüber sein, dass offenbar immer mehr junge Menschen den Wunsch haben, einen
Teil der Freizeit selbst zu gestalten.“ (NWZ v. 06.11.1974) Der Stellvertretende Unterbezirksvorsitzende
Helmut Hinrichs vertrat die Meinung, “man dürfe die Jugendlichen
nicht auf sich allein gestellt lassen, da alle Erfahrungen in der jüngsten Vergangenheit
gezeigt haben, dass sie ohne Betreuung bei der Selbstverwaltung überfordert seien.
Diese Ansicht wurde auch von Mitgliedern einiger Initiativgruppen bestätigt.“ (NWZ v.
06.11.1974)
Anmerkung des Verfassers:
Schöne Worte, der offenbar keine Taten folgten. Sprachlosigkeit nach innen, Sprechblasen
nach außen.
2. 13. Das Ende der Initiativgruppen
Im Oktober 1974 tagte unter Vorsitz von Jürgen Coors, Ganderkesee, der „Dachverband
der Initiativgruppen für selbstverwaltete Jugendzentren im Landkreis Oldenburg“.
16 Vertreter von 6 Initiativgruppen waren erschienen. Es wurde beraten, wie der Bau
von Jugendzentren vorangetrieben werden könne. Offenbar ratlos wurde überlegt,
„warum es trotz positiver Aussagen des Jugendamtes und der Parteien zu den Jugendzentren
keine Fortschritte gibt.“ Einige Anwesende stellten die Schwierigkeiten dar, die
ihnen bereitet würden. Der Vertreter des privaten Jugendzentrums in Amelhausen
meinte, „ dass es am besten wäre, vollständig auf die Hilfe öffentlicher Stellen zu verzichten,
um den Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.“ (Delm. Kurier v. 26.10.1974)
Anmerkung des Verfassers:
Es war vollbracht: Kreisverwaltung und SPD hatten einer neuen Jugendbewegung den Garaus
gemacht. Die eine mit dem Aufbau bürokratisch-rechtlicher Hemmnisse, die andere mit Ignoranz,
getarnt mit Sprechblasenakrobatik.
Es fand sich niemand, der diese Potentiale in produktive gesellschaftliche Innovationen umgewandelt
hätte.
21
Aber nicht ganz. Aus diesen Aktivitäten waren zwar keine selbst verwalteten, aber immerhin
in der Gemeinde Ganderkesee Jugendzentren entstanden, in Ganderkesee und Rethorn.
Hat sich bereits damals eine Entwicklung angedeutet? Der Niedergang der SPD als Volkspartei,
durch die intellektuelle Unfähigkeit oder Desinteresse/Eigeninteresse der Funktionäre, die
Werte der SPD zeitgemäß in die Zukunft zu transportieren. So ging ihr die Botschaft, das Markenzeichen
verloren.
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Einführung des Herausgebers:
Der folgende Beitrag beruht im Wesentlichen auf Aufzeichnungen und Erinnerungen von Peter
Groß, damals Vorsitzender der Jusos im Unterbezirk Oldenburg-Land an die „Wilden 70er“
Jahre. Sie sind eine wesentliche Ergänzung der weiteren Beiträge dieses Heftes. Auch aus einem
zeitlichen Abstand betrachtet, ist es für mich heute immer noch erschreckend, wie wenig Solidarität
Peter Groß von der SPD in seinem Kampf gegen offensichtliche Missstände erfahren
hat. Darüber hinaus wurde er, fest in seiner Haltung, von einigen „Genossen“ damals massiv
bedrängt, damit er seine politische Meinung ändere.
3. Die Arbeit der Jungsozialisten im Unterbezirk
Oldenburg-Land während der „Wilden Jahre“!
3.1. Einführung
Durch den enormen Aufschwung der Mitgliederzahlen (vor allen junger Mitglieder) in
der SPD, verbunden mit entsprechend ausgerichteten Forderungen an die politischen
,,Altvorderen“, entwickelte sich im Juso Unterbezirk Oldenburg Land ebenfalls eine
starke Gruppierung, die sich nicht scheute,„Heiße Eisen“ anzufassen und die amtierenden
Mandatsträger heftig zu attackieren.
Bis 1972 war Henning Amman aus Hude Vorsitzender der Jungsozialisten im Unterbezirk
Oldenburg-Land. Er wurde von Peter Groß aus Bookholzberg abgelöst. Zum engeren
Vorstand gehörten somit Peter Groß als 1. Vorsitzender, Henning Amman als 2.
Vorsitzender, Magdalene Achenbach, Martin Waack, Bernd Bischoff und Siegfried Szepanski.
Der Juso-Unterbezirk gab eine eigene Zeitschrift heraus. Die Redakteure waren
Klaus Müller aus Hundsmühlen, Martin Waack aus Ganderkesee, Henning Ammann
aus Hude, Karl-Heinz Ziessow aus Hurrel; zeitweilig auch die weiteren Mitglieder des
Unterbezirksvorstandes.
Die politischen Unruhen und Umwälzungen durch die 1968-Bewegung in Deutschland
hatten auch Auswirkungen im Oldenburger Land. In Folge der politischen Umwälzungen
wurden junge Politiker mutiger und forderten die sogenannten „Altvorderen“
der SPD gründlich heraus. Die Jungsozialisten im Unterbezirk thematisierten ab 1971
hauptsächlich folgende für sie wichtige politische Themen:
3.2. Jugendhäuser in den Gemeinden
In vielen Gemeinden des Landkreises Oldenburg versuchten junge Politiker der SPD,
vornehmlich der Jungsozialisten und der Falken (Jugendverband), eigene für ihre
Bedürfnisse zurechtgeschnittene Anlaufstellen einzurichten. Dies sollte in so genannten
„Jugendhäusern“ geschehen. Es sollte ein „Treffpunkt“ werden für Jugendliche
23
die nicht in Sportvereinen oder anderweitig organisiert waren. Die Aufsicht und Verwaltung
sollte in Eigenregie erfolgen. Man gründete eigens einen Dachverband der
Initiativgruppen für selbstverwaltete Jugendzentren. Bei den Parteien stieß die Forderung
nach Jugendhäusern zunächst auf nahezu einhellige Ablehnung, sah man doch
in solchen „Jugendhäusern“ die Brutstätte für weitere politische Agitation und Abbau
der herkömmlichen Machtstrukturen. Man schob fehlende rechtliche Regelungen vor,
um derartige Häuser zu verhindern. Es gab aber auch unter den politischen Mandatsträgern
fortschrittliche Kräfte, welche die Zeichen der Zeit“ bereits erkannt hatten und
die die Forderungen nach Jugendhäusern nach Kräften unterstützten. In der Gemeinde
Ganderkesee waren dies hauptsächlich die Ratsherren August Lampe, Walter Grüttner,
Hermann Speckmann und Werner Voigt. Im Landkreis sind hier hauptsächlich die
Mandatsträger Manfred Beier, Christian Schack, Ludwig Seltenreich, Helmut Machura
und Helmut Hinrichs zu nennen. Auch wenn das Anliegen der Jugendlichen lange Zeit
zurück gedrängt werden konnte, so sind Jugendhäuser in den Gemeinden heute eine
Selbstverständlichkeit.
3.3. Die Schafherde auf dem Pestruper Gräberfeld
Auf dem Pestruper Gräberfeld gab es seit Menschengedenken eine Schafherde, die die
dort vorhandenen Heideflächen abgrasten und somit für den erforderlichen Rückbiss
der Heide sorgte. Wohl um Kosten zu sparen, schaffte die Kreisverwaltung die Schafherde
kurzerhand gegen den Rat von Kreistagsabgeordneten und Fachleuten vor allen
dem Schäfer einfach ab. Die Heideflächen verwucherten, und es war absehbar, dass
dieses Erholungsgebiet auf Dauer durch den fehlenden Rückbiss der Heide schweren
Schaden nehmen würde.
Die von der Kreisverwaltung vorgenommene „Sparmaßnahme“ entpuppte sich zunehmend
als Rohrkrepierer und so wurde immer häufiger Kritik an der Verwaltungsentscheidung
geäußert. Der Schäfer, der als Erster von Anfang an auf gravierende Folgen
für die Heideflächen hinwies, lag darum mit der Kreisverwaltungsspitze über Kreuz.
Die Jungsozialisten im Landkreis Oldenburg kritisierten zusammen mit Kreistagsabgeordneten
das Verhalten der Verwaltungsspitze, vor allen des Kreisdirektors (KD) Wille.
Auf die zunehmende Kritik reagierte KD Wille mit einer Äußerung, die die Jungsozialisten
auf die Palme brachte. Im nach Auffassung der Jungsozialisten schnodderigen
und hochnäsigen Ton, verbat sich Kreisdirektor Wille jegliche Kritik an seiner Person
und der Verwaltung. Er drohte öffentlich damit: „sein Engagement für die Wiedereinsetzung
einer Schafherde einzustellen, sollte der Meinungsstreit des Schäfers mit der
Kreisverwaltung öffentlich ausgetragen werden.“
Peter Groß, der ausgezeichnete Beziehungen zur örtlichen wie auch zur überörtlichen
Presse, des Rundfunks und des Fernsehens besaß, nutzte diese Beziehungen, um die
Verwaltung und Mandatsträger in Unruhe zu versetzen, indem er keine Presseverlautbarung
der Verwaltung oder der Parteien unbeantwortet ließ.
24
3.4. Planung eines „Großflughafens“ im Naturschutzgebiet Wildeshauser Geest
Wohl durch Pläne der Niedersächsischen Landesregierung, des Bremer und des Hamburgischen
Senats kamen Überlegungen auf, zwischen Berne und Bookholzberg einen
Flughafen zu bauen, der die Flughäfen Hamburg-Fulsbüttel und Bremen überflüssig
machen sollte. Es sollte also so etwas wie ein „Großflughafen“ entstehen. Schnell kam
man aber dahinter, dass der moorige Untergrund in dieser Gegend völlig ungeeignet
ist, um ein solches Projekt dort zu platzieren, und so ersann man einen weiteren
Standort südwestlich von Ganderkesee im Naturschutzgebiet Wildeshauser Geest. Auch
hier konnten die Jungsozialisten im Landkreis Oldenburg mit Erfolg ein solches Projekt
verhindern, in dem sie lauthals dagegen protestierten. In einem Naturschutzgebiet,
welches mit erheblichen Aufwand an Steuermitteln erst zu einem solchen gemacht
wurde, sollte aus Gewinnstreben und großem Steueraufwand ein Flughafen ohne Rücksicht
auf die Bevölkerung entstehen. Das war für die Jungsozialisten des Schlechten
zuviel.
3.5. Verquickung von Beruf und Mandat des Günter Bertelmann
Im Jahr 1972 beauftragte die Gemeinde Ganderkesee den Architekten und Inhaber
einer Bauträgergesellschaft Günter Bertelmann aus Rethorn, der gleichzeitig CDUKreistagsabgeordneter
des Landkreises Oldenburg war, mit der Ausarbeitung des Bebauungsplanes
Nr. 63 (westlich des Heideweges). In diesem Gebiet besaß Bertelsmann
selbst das größte Grundstück in der Größe von ca. 1,5 Hektar.
Bertelmann, der als Kreistagsabgeordneter auch Vorsitzender des Bauentwicklungsausschusses
des Kreistages war, konnte aufgrund dieser Funktionen sehr früh Kenntnisse
über die bauliche Entwicklung im gesamten Landkreis Oldenburg erlangen. Da war es
leicht, Ackerland zu günstigen Preisen aufzukaufen und die Entwicklung dahin zu treiben,
dass man auch immer selbst ein Stück Begünstigter war.
Warum weder im Gemeinderat, noch im Kreistag, der Kreisverwaltung oder den Parteien
bei einer solchen Konstellation von Beruf und Mandat die Alarmglocken läuteten,
bleib das Geheimnis der Parteigremien, Mandatsträger und der Verwaltungsspitzen.
Jedenfalls gehörte eine gehörige Portion Blauäugigkeit dazu, hier nicht die Möglichkeit
der Vorteilsnahme zu sehen. Bertelmann nutzte jedenfalls seine Stellung als Vorsitzender
des Bauentwicklungsausschusses kräftig zu eigener Vorteilsnahme aus. Ein
beredtes Beispiel hierfür ist auch die Fläche um den Rethorner See, die Bertelmann
nahezu komplett als billiges, angeblich wertloses Land aufkaufte. Später ließ er es in
einen Bebauungsplan der Gemeinde Ganderkesee umwidmen und so konnte er mit der
Fläche einen großen Gewinn erzielen. Hierin sahen einige Ratsherren und die Jusos auf
Kreisebene eine Vorteilsnahme. Sie gingen wegen der Verquickung von Mandat und
Beruf des Architekten und Inhabers einer Bauträgergesellschaft sowie Mandatsträgers
des Kreistages des Landkreises Oldenburg über die Presse an die Öffentlichkeit. Dies
führte nun dazu, dass auch der Rat der Gemeinde Ganderkesee hellhörig wurde, und
25
so lehnte dieser maßgeblich unter Führung der Ratsherren Grüttner und Speckmann
den Bebauungsplan Nr. 63 ab. Es entwickelte sich ein munterer Streit in den Presseorganen,
in denen der Ratsherr Grüttner wegen seines Widerstandes gegen den Bebauungsplan
Nr. 63 heftig angegriffen wurde.
Bertelmann, der fest damit gerechnet hatte, dass der Bebauungsplan Nr. 63 vom Rat
der Gemeinde Ganderkesee und damit zu seinem eigenen Vorteil genehmigt würde,
ging wütend gegen seine Kritiker vor.
Ein Herr Wilken schrieb, als Antwort auf einen vorherigen Leserbrief, einen weiteren
Leserbrief, der am 07.11.1973 im Delmenhorster Kreisblatt veröffentlicht wurde:
…“Frau Mitulla wäre besser beraten, sich nicht an einen Ratsherrn (gemeint ist Ratsherr
Grüttner, der Autor) zu wenden, der wie wir alle wissen, seine Aufgaben mit großem
Einsatz wahrnimmt. Sie sollte sich lieber an denjenigen halten, der ihr Land zum
Zwecke der Bebauung verkauft hat, das nun eben kein Bauland wird … und ihr Verkäufer,
Mitglied einer demokratischen Partei und Kreistagsabgeordneter (gemeint ist
Bertelmann, CDU, der Autor), sollte sich fragen, ob seine gegenwärtigen Versuche, den
ablehnenden Beschluss des Gemeinderates Ganderkesee zu sabotieren, noch etwas mit
demokratischen Methoden gemein haben …“
Auch der Unterbezirksvorsitzende der Jusos Peter Groß aus Bookholzberg meldete
sich mittels Presseäußerungen und Rundfunkinterviews zu Wort, griff Bertelmann
scharf an und warf ihm Verquickung von Mandat und Beruf vor. Eine solche Vorgehensweise
sei schlichtweg unanständig, so Groß. In der eigenen Partei gab es nicht
nur Zustimmung zu der Kritik von Groß an Bertelmann. Der Bebauungsplan Nr. 63
war und blieb abgelehnt und Bertelmanns Rechnung ging nicht auf. Die Angriffe von
Bertelmann auf SPD Ratsherren und Peter Groß wurden damit aber immer heftiger.
3.6. Klageverfahren des Abgeordneten Bertelmann gegen Peter Groß.
Über das Verhalten von Bertelmann entwickelte sich ein heftiger Streit zwischen dem
Architekten und CDU Kreistagsabgeordneten Günter Bertelmann und dem Vorsitzenden
der Jungsozialisten im Unterbezirk Oldenburg-Land Peter Groß.
Schließlich erhob Bertelmann Klage gegen Groß vor dem Landgericht Oldenburg. In
der Klage behauptete Bertelmann: „Groß würde mit seinen Behauptungen dafür sorgen,
dass ihm (Bertelmann) die Existenzgrundlage entzogen würde“. Er forderte von
Groß eine hohe Summe an Schmerzensgeld und Schadensersatz aus einem beruflichen
Schaden. Mit der Klage sollte Groß politisch mundtot gemacht werden und Bertelmann
versuchte zusätzlich, ihn mit den Klageforderungen finanziell an den Rand des
Ruins zu treiben. Noch deutlicher wie in seiner Klageschrift dargestellt, konnte Bertelmann
eigentlich nicht darlegen, wie er seine Aufgabe als Mandatsträger sah.
Am 21.03.1974 wurde die Klage von Günter Bertelmann gegen Peter Groß vom 7.
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Senat des Landgerichts Oldenburg zurückgewiesen. In dem Urteil heißt es: „Dem Kläger
Bertelmann stehe weder ein Anspruch unter dem Gesichtspunkt einer Schadensersatzpflicht
aus schuldhaft begangener unerlaubter Handlung noch in entsprechender
Anwendung des § 1004 BGB ein quasinegatorischer Anspruch auf Beseitigung einer
fortbestehenden Folge eines objektiv rechtswidrigen Eingriffs in ein geschütztes Rechtsgut
… zu“. Weiter aus den Gründen: Groß konnte nachweisen, dass Bertelmann in den
Lageplänen des nicht in Kraft getretenen Bebauungsplanes Nr. 63 bei mehreren Hausgrundstücken
den Vermerk „verk.“ eingetragen hatte: Bertelmann hatte Grundstücke
als Baugrundstück in einem Bereich verkauft, für den es keinen genehmigten Bebauungsplan
gab!
Bertelmann ließ dieses Urteil aber nicht gelten, schließlich drohte ihm der Verlust
des Kenntnisvorteils aus seiner Tätigkeit im Bauentwicklungsausschuß des Kreistages.
Er zog vor das Oberlandesgericht Oldenburg. Mit Urteil vom 29. April 1975 wies der
2. Senat des Oberlandesgerichts Oldenburg die Berufungsklage des Günter Bertelmann
ebenfalls zurück. In der Begründung heißt es vielsagend: …“der Kläger hat durch sein
eigenes Verhalten die Behauptungen des Beklagten … veranIasst.“ Der Bundesgerichthof
hat die Urteile des Landgerichts Oldenburg und des Oberlandesgerichts Oldenburg
schließlich bestätigt.
Nach dieser Niederlage verbreitete Bertelmann die „Nachricht“: „Die Richter hätten
Angst vor den Jungsozialisten“, deshalb hätten sie gegen ihn entschieden. Nach der
Niederlage vor Gericht sah sich die CDU genötigt ihren „Fachmann“ im Bauentwicklungsausschuss
des Landkreises Oldenburg zurück zu ziehen. Bertelmann schied als
Kreistagsabgeordneter aus. Später verließ er Deutschland und ließ sich im fernen Ausland
nieder.
3.7. Der Dötlinger BaulandskandaI.
In der Gemeinde Dötlingen war es seit Jahr und Tag üblich Verträge per Handschlag
abzuschließen und so verfuhr auch der Gemeindedirektor der Gemeinde mit Bauwilligen,
die Bauland von der Gemeinde kauften. Da es keine gültige Bauleitplanung und
somit auch keinen gültigen Flächennutzungsplan für die Gemeinde Dötlingen gab,
veräußerte die Gemeinde Grundstücke ohne rechtliche Grundlage. Diese Grundstücksverkäufe
waren auch immer problemlos, soweit Grundstücke an äußerst betuchte Bürger
abgegeben wurden. Zumindest in solchen Fällen gab es auch Baugenehmigungen
durch die Kreisverwaltung. Nun hatte die Gemeinde Dötlingen auch Baugrundstücke
an „einfache Leute“ veräußert und auch hier darauf vertraut, dass die Kreisverwaltung
Baugenehmigungen erteilen würde.
Warum auch immer, ob es Differenzen zwischen der Gemeindeverwaltung in Dötlingen
und der Kreisverwaltung gab, der Grund ist nicht bekannt. Plötzlich wurden den
Bauinteressenten die Baugenehmigungen von der Kreisverwaltung mit dem Hinweis
versagt: „die Baugrundstücke lägen im Außenbereich“. Nur gekauft hatten sie schon
27
von der Gemeinde und auf das Wort des Gemeindedirektors vertraut, dass Baugenehmigungen
erteil würden.
Die Jungsozialisten im Oldenburger Land, an die sich die Bauinteressenten gewandt
hatten, nahmen sich des Themas an und setzten die Verwaltungen mächtig unter
Druck. Das Thema machte nicht nur in der örtlichen Presse die Runde. Selbst die
Bild Zeitung, das Hamburger Abendblatt, der Spiegel und weitere überregionale Presseorgane
griffen das Thema auf und berichteten ebenso wie Radio Bremen und der
Norddeutsche Rundfunk. Die Jusos hatten nun langsam die Nase gestrichen voll
und erstellten eine Dokumentation über die „Fehlleistungen der Kreisverwaltung in
Oldenburg und deren Spitzenbeamten Oberkreisdirektor Haubold und Kreisdirektor
Wille.“ In der unterschiedlichen Entscheidungen bei der Baugenehmigungserteilung
durch den Kreis sahen die Jusos einen glatten Bruch von Recht und Gesetz. In Pressemitteilungen
machten Sie darauf aufmerksam, dass der Leiter der Niedersächsischen
Heimstätte, Ernst, ohne Probleme eine Baugenehmigung im Außenbereich erhielt. Der
Industrielle Finger erhielt sogar eine Genehmigung für den Bau einer Reithalle. Aber
den aus einfachen Verhältnissen kommenden Bauwilligen versagte man die Baugenehmigung
aus vorgenanntem Grund. Es folgten Bürgerversammlungen und Proteste,
der Druck auf die Verwaltungen wuchs. Groß, der mehrfach zum Rapport bei dem
SPD-Unterbezirksvorsitzenden Manfred Beier einbestellt wurde, ließ sich nicht beirren.
Bei diesen „Rapport-Veranstaltungen“ saß dann der Landrat und Landtagsabgeordnete
Albert Klusmann neben weiteren Unterbezirksvorstandsmitgliedern und sang
dort mit hochrotem Kopf und immer dicker werdendem Hals seine „Empörungsarie“
über das Verhalten der Unterbezirksjungsozialisten unter Führung von Peter Groß. Er
schimpfte auf die Jusos lautstark nach dem Motto: Wer am lautesten schreit hat Recht.
Sachargumenten war man nicht zugänglich. Man verfuhr nach dem Motto: Egal was
die Verwaltung macht, sie hat immer Recht. Jedenfalls wurde der Druck im „Kessel“
schließlich zu groß für die Kreisverwaltung. Sie lenkte vor allem auf Druck des Jusos
ein, und erteilte allen Bauwilligen in Dötlingen auch ohne Erstellung eines Flächennutzungsplanes
eine Baugenehmigung.
3.8. Umgang mit den Vorwürfen durch die Parteien und der Verwaltung
Nicht die SPD-Kreistagsfraktion, sondern die FDP-Kreistagsfraktion richtete am
04.10.1973 folgenden Antrag an den Oberkreisdirektor:
„Im Namen unserer Fraktion möchte ich anfragen, was unsere Kreisverwaltung zu tun gedenkt,
um die in diversen Presseorganen veröffentlichen, schweren Anschuldigungen gegen unsere
Kreisverwaltung zu entkräften oder aber welche Konsequenzen sie daraus zu ziehen gedenkt.
Es geht uns bei dieser Anfrage in erster Linie um eine umgehende und ausreichende Klärung
des den Anschuldigungen zugrunde liegenden Sachverhalts und zwar in aller Form und vor der
Öffentlichkeit.
Die Bürger unseres Landkreises haben einen Anspruch darauf, dass derartige massive Vorwürfe
nicht wochenlang ungeklärt und unwidersprochen im Raum stehen bleiben.“
Unter der Überschrift „Vorwürfe der Jungsozialisten gegen die Kreisverwaltung“
28
findet sich im Protokoll der Sitzung des Kreistages vom 08.10.1973 die Antwort des
Oberkreisdirektors. Man kann sie so zusammenfassen: Alles Missverständnisse.
Immerhin beschloss der Kreistag die Bildung eines Untersuchungsausschusses –
jedoch ohne Beteiligung der Öffentlichkeit.
Die CDU-Fraktion bestimmte als Mitglied des Ausschuses u.a. ihren Kreistagsabgeordneten
Bertelmann! Dieser wurde sogar vom FDP-Kreistagsabgeordneten Tantzen
als stellvertretender Vorsitzer des Ausschusses vorgeschlagen und auch bestimmt!
Unglaublich.
Der Ausschuss berichtete in der Kreistagssitzung vom 17.12.1973. Danach fasste der
Kreistag bei einer Stimmenthaltung folgenden Beschluss:
„Nach eingehender Prüfung der Akten in den Baulandsachen der Gemeinde Dötlingen und
bezüglich der Pflegemaßnahmen für das Pestruper Gräberfeld wird festgestellt, dass die gegen
die Kreisverwaltung erhobenen Vorwürfe über Verstöße gegen das Baurecht und sonstiges
Fehlverhalten in keiner Weise berechtig sind.“
Der Vorsitzer des Ausschusses zur Untersuchung der gegen die Kreisverwaltung erhobenen
Vorwürfe trug vor der Beschlussfassung den wesentlichen Inhalt über die
Niederschrift des Ausschusses vor. Daraus Auszüge:
„Es seinen also Baumaßnahmen in Kenntnis der zu erwartenden negativen Entscheidungen
über die Bauanträge in Angriff genommen worden. Diese Verhaltensweise
mache deutlich, dass es an der Zeit sei, zu einer neuen Soliarität zurückzufinden. Es
müsse ein gesellschaftspolitisches Klima geschaffen werden, in dem nicht der Rechtsbrecher,
sondern der gesetzestreue Bürger geprägt werden. Im Hinblick auf die Vielzahl
von Baulustigen, die sich an Recht und Gesetz halten und den Eingang der Baugenehmigungen
abwarten, seien im Fall der Dötlinger Bauherren Ausnahmen nicht gerechtfertigt
gewesen.“
Der Kreistagsabgeordnete Zicht erklärte u.a.: “Er könne sich des Eindrucks nicht
erwehren, dass bei Fehlverhalten von Behörden selbst bei der Kommunalaufsicht kein
vorrangiges Interesse bestehe, die Verstöße vollends aufzuklären. Die Wahrnehmung
der Kontrollfunktionen werde der Absicht, niemandem wehzutun, untergeordnet. Die
Verwaltungsbehörden seinen nicht bereit und auch in der Lage, die vom Gesetzgeber
zugewiesene Aufgabe der Selbstkontrolle praxisgerecht auszuüben. Der Mut, Fehler einzugestehen,
also Zivilcourage zu zeigen, sei im Falle der Dötlinger Baulandangelegenheit
nicht festzustellen gewesen.“
Wie ist es erklärbar, dass nach diesen Ausführungen der oben wiedergegebene
Beschluss mit nur einer Stimmenthaltung angenommen wurde?
Diese „Untersuchung“ wurde unter Federführung des Oberkreisdirektors und des Kreisdirektors
durchgeführt. Auch der Bericht wurde nicht vom Kreistag verfasst, sondern
von der Verwaltung, also jenem Organ das in der Kritik stand. So konnte man das
Er geb nis voraus sehen. Einige Kreistagsabgeordnete erklärten denn auch den Untersuchungsausschuss
zur „Lachnummer“ und sagten das Ergebnis schon bei der Einrichtung
voraus. Zu einer objektiven Aufklärung trugen sie damit aber nicht bei.
29
Mit Leserbrief vom 08.10.1973 in der NWZ wehrten sich der Pressesprecher Bernd
Bischoff und der 1. Vorsitzende der Jusos Peter Groß unter anderem dagegen, dass
ihre Vorwürfe vom Oberkreisdirektor als Missverständnisse abqualifiziert würden.
Weiter warfen sie ihm vor, dass er zu dem Vorwurf, Baugenehmigungen ungerecht,
zum Teil auch mündlich, vergeben zu haben, keine Stellung nahm.
Besonders der Landrat Albert Klusmann versuchte, auf den Vorsitzenden der Jusos
massiven Druck auszuüben. Dies galt nicht nur für die Dötlinger Baulandaffäre, sondern
auch vor und während des Prozesses des CDU-Abgeordneten Bertelmann gegen
Peter Groß. Klusmann bestellte Groß sogar in sein Abgeordnetenbüro, um ihn dort
mächtig die Leviten zu lesen. Mit üblen Beschimpfungen und Drohungen (er wolle
den Verfassungsschutz einschalten!!) versuchte er vergeblich, Groß zu einer anderen
politischen Haltung zu bewegen.
Landrat Klusmann von der SPD und mindestens ein weiterer SPD-Abgeordneter des
Ganderkeseer Gemeinderates sollen ein Anwesen Bertelmanns in Spanien regelmäßig
zur Erholung genutzt haben. Ob hier Abhängigkeiten entstanden sind, und sich so das
parteiliche Verhalten Klusmanns in der Auseinandersetzung um die Verquickung von
Beruf und Mandat des CDU-Abgeordneten Bertelmann begründen lässt? Man kann nur
spekulieren.
Jedenfalls hat Klusmann das Verhalten von Bertelmann mit allen möglichen Argumenten
und Mitteln als Rechtens verteidigt. Eine Verquickung von Mandat und Beruf
konnte Klusmann nicht erkennen. Ein Schelm ist, wer Böses dabei denkt! Auf die weitere
unrühmliche Rolle von Klusmann als Landtagsabgeordneter und seine mögliche
Nähe zur CDU wird noch hinzuweisen sein. Man konnte noch Verständnis dafür aufbringen,
dass CDU und FDP sich wohl insgeheim darüber freuten, dass Bertelmann
gegen Groß vor Gericht zog, um ihn mundtot zu machen, aber warum galt dies auch
für die SPD? Bis auf wenige Ausnahmen (so u.a. Grüttner und Speckmann) unterstützte
aber kaum ein Mitglied der SPD den Vorsitzenden der Jusos Peter Groß in seinem
Kampf um Sauberkeit in der Politik. Ist dies auf die Einflußnahme von Klusmann auf
Parteigründer der SPD zurückzuführen?
3.9. Fehlende Stimmen der SPD bei Wahl des Ministerpräsidenten des Landes
Niedersachsen 1976
Im Januar 1976 trat der SPD Ministerpräsident Alfred Kubel aus Altersgründen von
seinem Amt zurück. Als Nachfolger war von der SPD der Minister für Finanzen Helmut
Kasimir vorgesehen. Statt geschlossen für ihn zu votieren, scheiterte seine Wahl
an Gegenstimmen aus dem eigenen Lager. Von der SPD-Fraktion erhielt Kasimir am
14. Januar 1976 nur 75 Stimmen, sein CDU-Gegenkandidat Ernst Albrecht erhielt 77
Stimmen. Die SPD verfügte über eine Ein-Stimmen-Mehrheit im Landtag. Als Kasimir
durchgefallen war, stellte man den Bundesbauminister Karl Ravens auf. Ihn ereilte das
gleiche Schicksal wie Kasimir: Er fiel durch.
30
In der Presse hielten sich hartnäckig Spekulationen darüber, dass unter den Stimmabweichlern
auch der SPD-Landtagsabgeordnete Albert Klusmann aus Ganderkesee zu
finden sei. „Der Spiegel“, das politische Magazin Deutschlands~ schlechthin, nannte
immerhin in drei Artikeln den SPD-Landtagsabgeordneten Albert Klusmann als einen
möglichen Stimmabweichler und Steigbügelhalter des CDU-Kandidaten und späteren
Ministerpräsidenten Ernst Albrecht. Hier schließt sich vielleicht auch der Kreis der
Nähe des SPD-Mandatsträgers Klusmann zur CDU und ergibt den Nährboden für die
Annahme, Klusmann habe am Fall der SPD als Regierungspartei in Niedersachsen kräftig
mitgewirkt. Die Nähe von Klusmann (SPD) zu Bertelmann (CDU) war augenfällig
und eigentlich nicht zu übersehen. Nur wer der politischen Kungelei verfallen war,
sah nichts, oder besser: Er wollte nichts sehen. Das Misstrauen, das die Jusos auf Unterbezirksebene
dem Landrat Albert Klusmann entgegenbrachten, schien gerechtfertigt.
Die Vermutungen der Presse, Klusmann sei für die Wahl des CDU-Ministerpräsidenten
Ernst Albrecht mit verantwortlich, sind wohl kaum aus den Fingern gesogen, sondern
dürften Ergebnis einer professionellen Recherchen von Redakteuren der örtlichen und
überörtlichen Presse gewesen sein.
31
4. Der Traum von einem selbstverwalteten
Jugendzentrum in Ganderkesee
Die Gemeinde Ganderkesee erwarb das ehemalige Lagerhaus der Eier-Verwertungsgesellschaft
(Eierschuppen) am Bahnhof an der Wittekindstraße. Mit der Bundesbahn,
dem Grundstückseigentümer, wurde ein Nutzungsvertrag geschlossen.
Der Gemeinderat fasste einstimmig den Beschluss, das Gebäude als Jugendzentrum
auszubauen und dafür im Haushaltsplan 1975 einen Betrag von 75.000,- DM bereitzustellen.
Das Angebot richtete sich an den am 14.01.1974 gegründeten Trägerverein „Jugendzentrum
Ganderkesee“, dem von der Gemeinde ein Nutzungsvertrag des Gebäudes
vorgelegt wurde.
Der Verein war aus einer „Initiative selbstverwaltetes Jugendzentrum“, die sich ab 1973
bildete, hervorgegangen. Nach dem Vorbild anderer Orte hatten sich entsprechend
interessierte Jugendliche auch in Ganderkesee zusammengefunden und in einem Klassenraum
selbstverantwortlich ihre Veranstaltungen durchgeführt.
In der Satzung des Vereins hieß es, dass er die Selbstverwaltung der Jugendlichen anregen
und fördern sowie die räumlichen und finanziellen Voraussetzungen dafür schaffen
wolle.
In den Vorstand des Vereins wurden gewählt: Heide Beier, Gerd Hutfilter und Rolf
Stiening. Weitere Aktive waren Magdalene Aschenbach, Gerold Brinkmann und Peter
Groß.
Aber bald meldeten sich die Bedenkenträger mit den üblichen Fragen: „Wer trägt die
Verantwortung? Wer passt auf das Geld auf?“
So zögerten sich die Verhandlungen mit der Gemeinde über die Nutzungsmodalitäten
hin. Diese Zeit nutzte der Verein, um selbstorganisierte Aktivitäten durchzuführen wie
eine Altmöbelsammlung und die Hilfe beim Bau eines Kinderspielplatzes. Vom Initiativkreis
und den Jungsozialisten wurden Initiativen gestartet, die heute noch Bestand
haben: Der Flohmarkt und die Ferienpassaktion.
Der von der Gemeinde ohne Mitwirkung der Jugendlichen verfasste Nutzungsvertrag
sah vor, dass der Verein die Räume nach eigenen Vorstellungen einrichten und zu
bestimmten Zeiten (werktags zwischen 14.00 und 24.00 Uhr und sonntags von 8.00
bis 24.00 Uhr) unentgeltlich nutzen könne. Eine finanzielle Förderung des Vereins
beinhaltete der Vertrag aber nicht. Von den Kosten für Instandhaltung, Heizung etc.
war der Verein freigestellt. Die Gemeinde behielt sich das Recht vor, außerhalb der
vereinbarten Nutzungszeiten die Räume für weitere Kinder- und Jugendarbeit zu nutzen.
Der Verein fertigte selbst zwei Vertragsentwürfe, die von der Gemeinde“ ohne darauf
einzugehen, in Bausch und Bogen abgelehnt wurden“ (Gerd Hutfilter, zitiert nach
einem Zeitungsbericht).
32
Bei zwei Enthaltungen stimmte der Gemeinderat dem von der Gemeindeverwaltung
(wohl in Person des meinungsleitenden Gemeindedirektors Heinz Huhs) erstellten
Nutzungsvertrag zu. Verwunderlich, weil den Jugendlichen vorher von den Ratsherren
Zustimmung zu ihren Plänen signalisiert worden war. Der SPD-Ortvereinsvorstand
äußerte in einer Presseerklärung, dass ohne Zustimmung der Jugendlichen keine
Lösung angenommen werden könne.
In einer Vollversammlung des Vereins am 16.12.1974 lehnten die Teilnehmer den Vertragsentwurf
der Gemeinde ab. Die Gründe hierfür waren u.a.:
Ein selbstverwaltetes Jugendzentrum sei unter den Bedingungen nicht möglich. Es
wäre ein falsches Signal für die anderen 10 Initiativen für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum
im Landkreis Oldenburg gewesen: Seht, die Ganderkeseeer haben klein beigegeben.
Der Vereinsvorstand hätte wahrscheinlich für alle Geschehnisse im Haus haften
müssen (Verkehrsicherungspflicht). Es wurde auch bestritten, dass eine Mehrzwecknutzung,
z.B. für eine Kindergruppe, möglich gewesen wäre.
Der erste Flohmarkt in Ganderkesee im Oktober 1974
Jeder Schlag 1,00 DM
Jürgen Coors auf dem Dach eines gespendeten VW-Käfers
Foto: Stiening
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Die Mehrzahl der Jugendlichen empfand das Verhalten der Gemeinde als aus
Misstrauen geborene Schikane und Erpressung. (NWZ v. 30.10.74)
Um diesem Misstrauen entgegenzuwirken, brachte der Verein den Vorschlag ein, ihm
die Trägerschaft zunächst für ein Jahr zu übertragen. Wenn das „klappen“ würde, dann
solle die Gemeinde die Trägerschaft um weitere zwei Jahre verlängern. Eigentlich ein
akzeptabler Vorschlag. Davon hörte man aber nichts mehr.
Nun bot sich der Bürgermeister Helmut Denker als Vermittler an. Es wurde ein Kompromiss
erarbeitet, den der zuständige Fachausschuss jedoch nicht annahm.
Im Dezember 1975 fand unter Vorsitz von Gemeindejugendpfleger Hermann Oltmanns
in der Aula der Schule am Habbrügger Weg mit Vertretern aus der Politik
und den Jugendlichen eine Podiumsdiskussion über die Situation der Jugend in der
Gemeinde Ganderkesee statt. Ohne Ergebnis. Die Zeitung titelte zutreffend: „Unergiebige
Fahrt im Rückwärtsgang.“ (DK v. 08.12.1975)
Heide Beier und Gerd Hutfilter vor dem Unterschriftenstand.
Dahinter Hans-Christian Schack. Dort konnten sich Besucher eintragen, die für ein
selbstverwaltetes Jugendzentrum waren.
Foto: Stiening
34
Damit war die Initiative „Selbstverwaltetes Jugendzentrum“ erfolgreich abgewürgt.
Der Rat beschloss bei Stimmenthaltung von Hermann Speckmann, den sogenannten
Eierschuppen für die Unterbringung eines Spielkreises umzubauen. Dieser erklärte,
dass der Kinderspielkreis nur vorübergehend, bis zur Einrichtung eines Kindergartens,
aktiv sein solle, und erinnerte daran, dass das Haus als Jugendzentrum genutzt werden
solle. Die Ganderkeseer Jugend habe keine Unterkunft, und deshalb schäme er sich.
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Adolf Meyer betonte in der öffentlichen Ratssitzung mit
Nachdruck, „dass Hermann Speckmann seine persönliche Meinung und nicht die der
SPD-Fraktion äußerte.“ ; zitiert nach einem Zeitungsbericht.
Nur ein Mitglied aus der Gruppe um den Verein „Jugendzentrum Ganderkesee“ war
Mitglied des Gemeinderates: Hermann Speckmann, der dort als Einzelkämpfer zwar
die Forderungen des Vereins stützte, aber damit nicht durchdringen konnte. Wie sehr
die Fronten verhärtet waren, zeigt obiger Vorgang.
In einem längeren Leserbrief vom 01.02.1975 warb Speckmann um Verständnis für das
Anliegen der Jugend und beklagte, dass durch autoritär-obrigkeitliches Denken (Das ist
unser Angebot, wenn ihr nicht wollt, ist Schluss) keine der Jugend angemessene Form
der Verhandlungsführung gefunden wurde. Während Flugplatz, Reithalle, Tennisvereine
und die Freilichtbühne in Bookholzberg mit öffentlichen Mitteln gefördert würden,
werde für ein Jugendtreff kein Geld zur Verfügung gestellt.
Was war vermutlich der Hintergrund für die ablehnende Haltung bei Verwaltung und
Ratsherren?
Die handelnden Personen des Vereins wurden als „links“ und als Kommunisten angesehen,
die die übrigen Mitglieder für ihre Ziele manipulieren würden, ja vielleicht
sogar eine Kommune mit freier Liebe gründen wollten. Jede Machtstellung dieser
unberechenbaren, sogar Autoritäten in Frage stellenden Personen musste verhindert
werden.
Das Selbstverständnis des Rates und der Gemeindeverwaltung war vergangenheitsgeprägt:
Sie glaubten an die Unfehlbarkeit der Amtsautorität der Gemeindeverwaltung.
Diese wisse immer, was richtig sei. Darauf könne man sich verlassen.
Hinzu kam eine schon neurotische Angst vor Kontrollverlust: Wenn ihr schon unser
Geld bekommt, dann wollen wir auch wissen, was ihr damit macht. Merkwürdigerweise
galt diese Denkungsart nicht bei der Vergabe von finanziellen Mitteln an Reitund
Tennisverein. Eine paternalistische Haltung gegenüber der Jugend wird deutlich.
Sicher vertraten die Jugendlichen und Heranwachsenden im Gefolge der Studentenbewegung
ein radikaldemokratisches Modell, auch marxistisches Gedankengut, aber sie
sahen doch nicht Ganderkesee aus Ausgangspunkt der Weltrevolution und sie dürften
alle verfassungstreue Bürger geworden sein. Ihnen hätte man vertrauen können.
35
Leider waren auch die SPD-Vertreter im Rat zumeist der oben bezeichneten obrigkeitsorientierten
Einstellung verhaftet. In ihrem Programm, dem Godesberger Programm,
stand etwas anderes: Jugendliche müssen früh und vertrauensvoll zur Mitwirkung und
Mitverantwortung herangezogen werden, und die Jugend muss befähigt werden, ihr
Leben selbst zu meistern. An der Basis in Ganderkesee war davon nichts angekommen.
So war leider für die Aktiven des „Vereins Jugendzentrum“ die SPD-Fraktion, auf die
man gehofft hatte, eine große Enttäuschung. Sie folgte den Vorgaben der Gemeinde,
bildete kaum eine eigene Meinung aus und dürfte eine Kontrolle der starken Position
Gemeindeverwaltung aufgegeben haben, wenn sie denn jemals erfolgte. Von den an –
deren Parteien erwartete man keine Unterstützung. Die Jugendlichen bekamen den
Eindruck, dass sich hinter den Sprachkulissen eine überparteiliche Seilschaft mit dem
Ziel bildete, ihr Vorhaben zu verhindern.
Aus Enttäuschung darüber, dass in Ganderkesee kein selbstverwaltetes Jugendzentrum
eingerichtet wurde, stellten die Jugendlichen die von ihnen für das Zentrum gesammelten
Möbel und Geräte vor dem alten Rathaus ab.
Verbal trat die SPD auf Kreisebene aber immer noch für Jugendzentren ein. Vollmundig
forderte sie u.a. nach dem Altenplan einen Kreisjugendplan. Der Vorsitzende der
SPD-Kreistagfraktion Manfred Beier: „Bei der Einrichtung von Jugendzentren sind Formen
der Selbstorganisation und Selbstverwaltung junger Menschen dabei besonders
zu fördern.“ (NWZ v. 30.09.74). Der damalige Kreistagsabgeordnete Christian Schack
sagte, man „solle sogar froh darüber sein, dass offenbar immer mehr junge Menschen
den Wunsch haben, einen Teil der Freizeit selbst zu gestalten.“ (NWZ v. 06.11.74)
(Siehe auch entsprechende Aussagen im Kapitel:„ Die Auseinandersetzung zwischen
dem Landkreis Oldenburg (Oldb) Jugendamt und den Jugendinitiativen“)
Aber außer der Produktion heißer Luft in Sonntagsreden („man begrüßte es“) taten die
Politiker der SPD nichts, um die Einrichtung von Jugendzentren zu fördern.
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5. Die „weiße Industrie“ und die SPD in Ganderkesee
Um 1973 wurde in der Gemeinde Ganderkesee die sogenannte „Weiße Industrie“,
Ansiedlungen der „Schwarzen Industrie“ schränkten sich ein, propagiert. Damit war
die Freizeitindustrie gemeint wie Tennis, Reiten und der „Luftsport“.
Vor allem die Aktivitäten des „Flughafendirektors“ Jochen Sauer waren darauf gerichtet,
beim Flughafen weitere Segmente der Freizeitindustrie anzusiedeln.
Die Entwicklung war für die Jusos ein Anstoß, sich in Leserbriefen und parteiintern zu
äußern.
Gerold Brinkmann, ein Mitglied der Jusos, äußerte in einem Leserbrief, dass diese An –
gebote nur von „Privilegierten in unserer Gesellschaft genutzt werden können“. Diese
würden durch schöne Beteuerungen verschleiern, dass arme Bevölkerungsschichten
diese Angebote schlechter nutzen können. An Veranstaltungen für Benachteiligte wie
ein Spielwochenende für Kinder und Jugendliche hätten sich, „die Privilegierten“,
nicht durch Spenden beteiligt.
Walter Grüttner (Ratsherr) erwiderte darauf in einem Leserbrief, dass in Ganderkesee
„mittlere Privatunternehmen die Ertragskraft ihres Unternehmens benutzen, um auf
eigenes Risiko“ entsprechende Anlagen zu erstellen.
Die Erwiderung in einem Leserbrief erfolgte durch Gerold Brinkmann, Gerd Hutfilter
und Hermann Speckmann (BHS): Von Risiko könne wohl keine Rede sein, da es unter
den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen einen „Vorrat an Privilegierten
gebe“, die die Angebote nutzen können. Dann wird die Formulierung von Grüttner
„Ertragskraft des Betriebes“ hinterfragt. BHS: „Dass jedoch die sogenannte Ertragskraft
darauf beruht, dass die Arbeiter in diesen Betrieben mehr Werte produzieren, als es
für die eigene Lebensführung … erforderlich ist, wird verschwiegen.“ Gerade dieser
Mehrwert ermögliche den Bau derartiger Freizeitindustrien, die dann wieder den Zweck
haben, „die Profitmaximierung im Reproduktions-, sprich hier Freizeitbereich, fortzusetzen“.
Grüttner schreibt in einem darauf antwortenden Leserbrief, dass er das Angebot, Schulsport
in den Tennisanlagen zu betreiben, als wesentlichen Schritt sehe, die „glaubwürdige
Partnerschaft“ der Unternehmer mit der Bevölkerung zu begründen. Auch hier
schwingen BHS in dem erneuten Leserbrief die strenge analytische Peitsche marxscher
Machart: Grüttner verkenne, dass ein grundsätzlicher Interessengegensatz zwischen
der Bevölkerung und dem Unternehmer bestehe. Dieser sei objektiv durch die Tatsache
begründet, „dass die Unternehmer die Mittel zur Beherrschung der Arbeiter haben,
weil nämlich nur sie im Besitz der Produktionsmittel sind, mit denen die Arbeiter
ihren Lebensunterhalt verdienen können.“ Die Schüler würden so auf „die Notwendigkeit
der Profitrealisierung auch im Freizeitbereich vorbereitet“.
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Die Pressesprecherin der Ganderkeseeer Jusos, Inge Schack, gab unter der Überschrift:
“Hat das Bedürfnis der privilegierten Bürger Vorrang?“ eine Stellungnahme ab. Beklagt
wurde, „dass die sich in Ganderkesee breit machende Freizeitindustrie für einige Privilegierte
sich zum Nachteil vieler Bürger auswirken kann“. Die Freizeitindustrie sei
nicht an den berechtigten Interessen der Bürger orientiert. Die positive Stellungnahme
des Rates zu einer Motorsportveranstaltung auf dem Flugplatz wird kritisiert. (DK v.
03.05.1973)
In einem Kommentar des Delmenhorster Kreisblattes werden die Äußerungen der Jusos
als „Klassenkampfansage“ verstanden. (DK v. 03.05.1973)
In einer Plenumssitzung der Jusos stellten diese fest, dass eine Klassenkampfansage
in die politische Mottenkiste gehöre. Sie wollten aber bestehende Probleme aufgreifen
und den Kern der Probleme klarstellen. Aus den Erfahrungen in ihrer Altenarbeit
(aktiv: Heide Beier, Heide Heitmann, Hildegard Stiening) erforderten sie die Entwicklung
eines Altenplanes. Die Arbeitsgruppe Jugendbetreuung beklagte, dass es an einem
von jedem Jugendlichen nutzbaren Freizeitangebot fehle.
In der Folgezeit kam es zu etlichen Wortmeldungen in der Presse. Die Gemeinde Hude
forderte aufgrund von Lärmbelästigungen eine “Ausweitung des Flugplatzes nicht
zuzulassen.“ Ein Leserbriefschreiber äußerte den heimlichen Wunsch: „Radaumacher“
herunterholen!
Speckmann fürchtete in einem Leserbrief, dass der Flughafen die Entwicklung des
Erholungsgebietes Wildeshauser Geest beeinträchtige. Das hat sich wohl nicht bestätigt.
Die Proteste blieben folgenlos. Der Flugplatz wurde weiter ausgebaut und genutzt.
So fand auf ihm am 01.04.1973 ein Auto-Slalom des ADAC statt. Der Ausschuss für
Umweltfragen fand gegen die Stimme von Speckmann, dass „es nicht zu nennenswerten
Belästigungen und Störungen für die Bevölkerung gekommen ist“.
Zu einer gänzlich anderen Auffassung kamen die Jusos. Sie hatten die Anlieger befragt,
die sich erheblich durch die Veranstaltung belästigt fühlten. Die Pressesprecherin der
Jusos, Inge Schack, teilte mit, dass der Auto-Slalom nach diesem Ergebnis künftig an
einem anderen Ort stattfinden müsse. (NWZ v.16.04.1973)
Die Jusos machten wieder die Erfahrung, dass sich weniger die Interessen der Bürger
als vielmehr die Interessen finanzkräftiger Investoren, auch mit Unterstützung der SPD,
durchsetzten.
In sehr geschickter Weise band „Flughafendirektor“ Sauer die zuständigen Entscheidungsträger
in seine Planungen ein. So wurde im Mai 1973 mit großer Beteiligung
von Prominenz und Ratsmitgliedern der Lufttaxi-Liniendienst vom Flughafen Ganderkesee
nach Norderney eröffnet. Der stellvertretende Bürgermeister von Seggern
(CDU) dankte Sauer für sein Engagement und für das „ständige Bemühen um die
Anhebung der Attraktivität Ganderkesees“. In dem Zeitungsbericht wird hervorgehoben,
dass der SPD Fraktionsvorsitzende, Adolf Meyer, mit dem Fraktionsvorsitzenden
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der CDU, Hans-Joachim Selke, nach Norderney geflogen sei. Der Reporter stellte sich
– wie auch die Jusos – die Frage, ob „ es nun Zufall oder der Wille zu mehr Gemeinsamkeit“
war, der die beiden zusammen fliegen ließ“. (DK v.14.05.1973)
Adolf Meyer erklärt heute dazu, dass er nicht mit Selke nach Norderney geflogen sei.
Er hätte aber auch keine Probleme damit gehabt, mit dem politischen Konkurrenten
zu fliegen.
Der Tennisverein Ganderkesee beantragte einen Baukostenvorschuss für die Anlegung
eines Jugendtennisplatzes in Höhe von 1.100 DM. Speckmann erklärte in der Gemeinderatssitzung,
dass er diesen Zuschuss angesichts der finanziellen Lage der Gemeinde
für „unverständlich“ halte. Zudem könne dieser Betrag auch vom Tennisverein selbst
aufgebracht werden. (DK v. 30.10.1975)
6. Ein Buch und seine Folgen
Im November 1973 erschein im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg,
das Buch „Da weitere Verwahrlosung droht – Fürsorgeerziehung und Verwaltung –
Zehn Sozialbiografien aus Behördenakten“. Herausgeber war Prodosh Aich, Soziologe
und Akademischer Rat der Universität Oldenburg.
In dem Buch werden anhand von Auszügen aus neun Akten von Jugendämtern die
Aktivitäten aller beteiligten Institutionen analysiert, die bei der Durchführung einer
sogenannten Fürsorgeerziehung oder Freiwilligen Erziehungshilfe von Minderjährigen,
die in der Regel mit einer Heimunterbringung verbunden war, beteiligt waren. Dies
geschah unter Anleitung von Aich im Rahmen einer Lehrveranstaltung der Universität,
an der fünf Studenten (Elke Fischer, Günter Grote, Lothar Sivers, Hermann Speckmann,
Syltje Töpper) teilnahmen. Sicher diente Aich als anleitendes Interpretationsmuster die
marxsche Lehre. Die Motivation zur Mitarbeit bei Grote und Speckmann ergaben sich
aus ihren Erfahrungen bei der Unterbringung von Jugendlichen in Heimen. Es war vor
allem die Leichtfertigkeit, mit der Jugendliche aus häufig nichtigen Gründen stigmatisiert
und vom Jugendamt/Landesjugendamt als „Zöglinge“in kasernenartigen Heimen
untergebracht wurden.
Einige Akten hatte Dr. Hartmut Zander von der Universität Oldenburg vom Jugendamt
der Stadt Delmenhorst für wissenschaftliche Zwecke ausgeliehen. Jugendamtsleiter
Kurt Behlmer hatte die Akten selbst ausgesucht.
Nachdem die Fachwelt und die Öffentlichkeit vom Inhalt des Buches Kenntnis genommen
hatte, kam es zu heftigen Stellungnahmen. Für die Juristen der Stadt Delmenhorst
lag ein eklatanter Vertrauensbruch sowie ein Verstoß gegen § 353 b Strafgesetzbuch
(Verletzung des Dienstgeheimnisses und einer besonderen Geheimhaltungspflicht vor.
Gefordert wurde die Bestrafung des Herausgebers. Tatsächlich werden in dem Buch
Persönlichkeitsgutachten, psychiatrische Gutachten und Polizeiprotokolle veröffentlicht.
Die Namen der „Fürsorgezöglinge“ waren aber durch Pseudonyme ersetzt sowie
alle Anhaltspunkte verfremdet worden, die auf die Person des Genannten hätten
schließen lassen können. Die Namen der beteiligten Fürsorgeerziehungsheime und der
Kliniken wurden jedoch offen genannt.
Die Ergebnisse der Analyse des Autorenkollektivs konnten besonders bei den Vertretern
der Behörden, Heime und Kliniken keine Zustimmung auslösen.
Hier einige in Kürze:
• Die Aktenvermerke waren darauf zugerichtet, bestimmte gesetzlich vorgegebene Normen
zu erfüllen. Das „aktenkundig Gemachte“ war der Einsichtnahme des „Zöglings“
entzogen, er konnte seine Sichtweise nicht einbringen. Damit wurde in der Akte eine
eigene Wirklichkeit konstruiert, mit der Entscheidungen über ihn zu steuern waren.
• Jugendämter hatten vorwiegend keine Erziehungs- sondern eine Ordnungsfunktion.
• Eine Vorbedingung für die Heimeinweisung war die ökonomische Benachteiligung
der Jugendlichen. Kleine Delikte wurden unter dieser Voraussetzung eher kriminalisiert.
• Fürsorgeerziehung führte zu einer Verfestigung des abweichenden Verhaltens.
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Einschub: Reaktionen von Mitarbeitern des Wichernstiftes auf das Buch
In der Publikation wird auch das Evangelisch-lutherische Wichernstift in Elmeloh, das
„Fürsorgezöglinge“aufnahm, mit Klarnamen genannt und Gutachten der Jugendpsychiatrischen
Klinik veröffentlicht. Die Leitende Ärztin Frau Dr. Göschel kommentierte:
Es werden Fronten aufgerollt, statt Abhilfe zu veranlassen.
Aber Abhilfe zu schaffen war die Intention des Buches.
Der im Wichernstift beschäftigte Pastor Meyer-Dettum berichtete, dass er auch von
Mit gliedern des Autorenkollektivs hinsichtlich der Herausgabe von Akten angesprochen
worden sei. Dies habe aber das Landesjugendamt untersagt. Er halte es für wictig,
dass strukturelle Mängel in der Heimerziehung aufgedeckt und die eigene Praxis kritisch
wissenschaftlich überprüft würde. So ergebe sich eine Chance, die unhaltbaren
Zustände der Fürsorgeerziehung zu verändern. Er lehnte juristische Maßnahmen gegen
den Herausgeber und die Autoren ab.
Mitarbeiter des Wichernstiftes, der ÖTV-Betriebsgruppe und Studierende des Heilpädagogischen
Seminars richteten eine Solidaritätsadresse an den Herausgeber und die
Autoren des Buches. Darin wandten sie sich dagegen, dass „von dem eigentlichen
Gegenstand der Auseinandersetzung auf eine formale juristische Ebene abgelenkt…
wird.“ Sie sahen einen Widerspruch zwischen dem demokratischen Anspruch der
Gesellschaft und der Praxis von Behörden und Heimen und erklärten sich mit der
Überprüfung ihrer Praxis einverstanden.
In dieser Resolution wurde hervorgehoben, „dass die Unterzeichner ein Verständnis
von Wissenschaft unterstützen, das den Bezug zur gesellschaftlichen und politischen
Praxis, die Solidarisierung mit den Interessen der arbeitenden Bevölkerung, der besonders
benachteiligten Gruppen und die öffentliche Diskussion von Untersuchungsergebnissen
einschließe.“
Das Prinzip der Verschlüsselung von Daten sei vom Autorenteam voll beachtet worden.
(Weser-Kurier v. 23./24.03.1974)
Zum Verständnis dieser Aussagen ist es hilfreich zu wissen, dass es im Gefolge der
Studentenbewegung Ende der 60er Jahre zu so genannten Heimkampagnen kam.
„Heiminsassen“ wurden aufgefordert, die Heime zu verlassen und sich z.B. in Wohngemeinschaften
selbst zu organisieren. Für diese zumeist eine Überforderung. Diese
Kampagne führte auch im Wichernstift zu erheblichen Auseinandersetzungen, die
letztlich zu deutlichen Veränderungen in der Struktur der Einrichtung führten.
Die Ratsherren der Stadt Delmenhorst drängten mehrheitlich nicht auf eine Strafanzeige.
Der Bürgermeister Harald Groth vertrat die Auffassung, dass Forschung und
Publizistik nicht unbedingt voneinander zu trennen seien (NWZ v. 19.03.1974).
Stadtrat Wilhelm Bohnhorst bestritt im Gespräch mit Ratsherren, in einer Strafanzeige
die Bestrafung des Herausgebers und der Autoren gefordert zu haben. Die Stadt sei
vielmehr vom Landesjugendamt Oldenburg, das dem Verwaltungspräsidenten unter41
geordnet war, aufgefordert worden, eine Strafanzeige zu stellen, weil die Akten „unter
Amtsverschwiegenheit für eine Seminararbeit zur Verfügung gestellt worden waren.
Durch die Veröffentlichungen seien die Anonymität nicht gewahrt und der Persönlichkeitsschutz
nicht gewährleistet.“ (NWZ v. 19.03.1974) Der Verwaltungsausschuss
der Stadt beauftragte die Verwaltung, „zu überprüfen, ob nicht von einer Strafanzeige
abgesehen werden könne, da Wissenschaft und Publikation aufeinander angewiesen
seien.“ (NWZ v. 28.03.1974)
Die Städte Bonn und Lübeck, die annahmen, dass auch Akten aus ihrem Zuständigkeitsbereich
in dem Buch bearbeitet wurden, erstatteten Anzeige gegen Prodosh Aich.
Der Heimbeirat des Jugendfreizeitheimes an der Oldenburger Straße organisierte am
09. 04. 1974 aufgrund des breiten öffentlichen Interesses in seinen Räumen eine gut
besuchte Diskussionsveranstaltung zum Thema Fürsorgeerziehung. Zahlreiche eingeladene
Vertreter aus Politik und Verwaltung hatten abgesagt oder waren nicht erscheinen.
Anwesend war Bürgermeister Harald Groth, der sich – als Sozialarbeiter – lebhaft
an der Diskussion beteiligte. Er plädierte für kleinere Heime, in der eine Privatatmosphäre
möglich sei. Der Herausgeber und das Autorenteam stellten ihre Sicht vor. Die
Diskussionsteilnehmer trugen Vorschläge zur Verbesserung der Erziehungshilfen vor.
(Weser Kurier v. 11.04.74)
Der Senat der Universität Oldenburg fasste am 18.04.1974 einen Beschluss, in dem er
gegen die Drohung des Sozialdezernenten der Stadt Delmenhorst, Bohnhorst, die weitere
Zusammenarbeit der Behörden mit der Universität von der Bestrafung eines Universitätsmitgliedes
abhängig zu machen, protestierte.
In der Zeitschrift „Unsere Jugend“ (Kopie ohne Erscheinungsdatum) beklagte sich der
Leiter des Landesjugendamtes Oldenburg, Dr. Ferdinand Carspecken zornig, dass die
Zusicherung der Amtsverschwiegenheit nicht eingehalten worden sei und er bedauerte,
dass „Sozialarbeiter aus meinem Amtsbereich mitgewirkt haben…“ (Groth und Speckmann,
Deutlich fahren
Die Erziehungsinstitutionen arbeiten in Bezug auf Bildungsinhalte und Vermittlungsformen
autoritär, d. h. ohne sie einer demokratischen Kontrolle und Diskussion zu
stellen.
Rechts gehen
Die für den Warenverbrauch manipulierten Bedürfnisse erlauben Freiheit nur als Konsumlust.
Die revoltierende Minderheit der Jugend hat noch auf anderes Lust.
Schale nicht zum Verzehr geeignet
Die Sexualität wird in dieser Gesellschaft einerseits unterdrückt, andererseits als „Ware“
eingesetzt und dem Leistungsprinzip unterstellt. Die neue Generation sucht
humanere Partnerbeziehungen.
Die neue Generation der Ciqarette
Das Typische Produkt der industriellen Massengesellschaft ist der „eindimensionale
Mensch“, der entrüstet und voll Mitleid Vietnamkrieg und Hungerelend zur Kenntnis
nimmt ohne Konsequenzen zu ziehen. Von dieser Art bewußtlosen Menschsein wendet
sich ein radikaler Teil der Jugend in existentiellem Ekel ab und engagiert sich für
Kriegsdienstverweigerungund Weltrevolution.
Gemütlic:ler lebt sich‘ s in der Welt aus Dolan
Die internationale Revolte der Jugend ist Ausdruck tiefgreifender sozialer Veränderungen.
Wenn die Jugend sich ruhig verhält, herrscht noch lange keine Ordnunq. Die
Welt ist in Unordnung.
Der Mensch fährt Bahn
Die Angst der Älteren vor dem „Terror“ der Jugend ist Ausdruck einer tiefen Lebensangst,
sofern in dieser Gesellschaft der Mensch als Arbeitskraft bewertet und ausgetauscht
wird. Die Jugend ist auf Dauer immer die bessere Ware.