geb.1937 –      / Sozialarbeiter, Diplom-Pädagoge, Autor
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Der Flug des Ganters

Hermann Speckmann

Das Tier, das zu Ganderkesee gehört, ist natürlich der Ganter. Warum? Weil es die Sage so berichtet:

,,In alten Zeiten waren in dem Kirchspiel Ganderkesee sieben Kapellen, nämlich in Bergedorf, Kirchkimmen, Habbrügge, Gruppenbüren, Stenum, Schlutter und Bürstel. Aber die sieben Kapellen kosteten so viel zu unterhalten, dass die Einwohner beschlossen, statt ihrer eine große Hauptkirche zu bauen. Und da sie sich über den Ort, wo die Kirche stehen sollte, nicht einigen konnten, ließen sie einen Gänserich, plattd. Ganter, mit verbundenen oder geblendeten Augen fliegen: wo der sich niederlasse, solle die Baustelle sein. Der Gänserich setzte sich in die Niederung, wo jetzt die Kirche steht, und der Ort empfing daher den Namen Ganter kesede, Gäriserich erkieste. Es hatte sich aber der Vogel, seiner Natur folgend, die allerniedrigste Stelle, eine Lache, ausgesucht, die erst ausgefüllt werden musste, wozu man die Erde in der Nachbarschaft ausgrub. Daher stammen die beiden Teiche, die noch im Pastorengarten zu sehen sind. (Strackerjahn, Ludwig: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg, 2. Auflage, 2. Band, 287/288)

Eine andere Erklärung: Als Ganderkesee zum ersten Mai in der ,,Vita St.Willehadi“ des Bremer Bischofs Ansgar aus dem Jahre 860 erwähnt wird, wird es Gandrikesarde genannt.

Der Ortsname Ganderkesee soll nach Friedrich Bultmann (Aus der Frühzeit und dem Mittelalter, in: 860/1960- 1000 Jahre Ganderkesee, Gemeinde Ganderkesee, 1960, 21) aus dem Personennamen Ganderik entstanden sein, jener Person, die in der Völkerwanderungszeit bei der Gründung des Ortes die Führung hatte“. Der Name Ganderik soll aus Ganter und rik = Regent/Herrscher bestehen. Arde meint Erde/Pflugland. Danach könnte der Ortsname als Erde des Ganterherrschers interpretiert werden. Bultmann meint weiter, dass dem Ganderik die Attribute des Ganters, der als Wetter- und zauberkundiger Vogel galt, zugesprochen wurden und der Personenname Ganderik dann als ,,der durch seine Geistesgaben Herrschende“ zu verstehen sei. Das verwundert. Wie kommt er auf Geistesgaben, wenn er vorher dem Personennamen die Attribute Wetter- und Zauberkraft zuschreibt? Es hatte dann doch richtiger ,,der durch Zauberkunde Herrschende“ heißen miüssen. Es besteht keine Obereinstimmung bei der Deutung des Namens Ganderkesee, wohl aber Einvernehmen darüber, dass im ersten Wortteil ,,Ganter“ enthalten ist.

Nun schreiben die Germanen dem Ganter und den Schwänen nicht nur die Wetterkunde und der Zauberei, sondern auch der Weissagung zu. Aus dem Völundlied der Edda ist der Zusammenhang zwischen Schwanen und Walküren ersichtlich. Es werden Walküren geschildert, die ihre Schwanenkleider abgelegt haben. Ein Aspekt der Walküren ist, dass die Nornen, die im Wurzelbereich der Weltenesche Iggdrasil leben und am Menschenschicksal spinnen, in Schwanengestalt gedacht wurden. Bis heute hat sich diese alte Vorstellung erhalten, wenn wir zum Beispiel sagen: Mir schwant was“.

Viele werden noch den Brauch kennen, dass zwei Personen einen so genannten Glücksknochen des gerade verspeisten Huhns anfassen und durchbrechen. Wer den größeren Teil erwischt hat, kann sich etwas wünschen.

Aus der Volkskunde sind zahlreiche Beispiele für die Weißsagefunktion der genannten Tiere bekannt. Aus dem Brustbein der Martinsgans hat man auf die Wetterbedingungen des kommenden Winters schließen wollen. War es zum Beispiel rötlich, wurde angenommen, dass der Winter milde wird. Junge Mädchen zogen einem Ganter einen Strumpf über den Kopf und ließen ihn blind in der Spinnstube laufen. Das Mädchen, auf das der Ganter zulief, würde zuerst heiraten.

Nicht zuletzt ist die obige Sage von der Entstehung des Ortnamens Ganderkesee ein deutlicher Hinweis auf die Funktion des Ganters als Weißsagevogel. Ein geblendeter Ganter wird in die Luft geworfen und dort, wo er sich niederlasst, wird die Kirche errichtet.

Orakelstatte?

Sowohl aus dem Personennamen Ganderik als auch aus der Sage ergeben sich Anhaltspunkte, dass sich im Bereich der heutigen Kirche auf trockener Höhe mit Abhang zu der zugeschütteten „Kleinen Bake“ und dem „Pastorenteich“ eine Orakelstatte der Chauken bestanden haben konnte. Zu einer germanischen Kultstatte gehörte Wasser, am besten eine Quelle. Wasser als Voraussetzung für den vegetativen Fruchtbarkeitszyklus ermöglichte den Zugang zu den unterirdischen Fruchtbarkeitsgöttern. Damit war eine Quelle auch eine Opferstätte. Papst Gregor Ill untersagte 731 die Quellenweissagung. Zudem wäre für die Weissagung mittels Schwäne ein Gewässer erforderlich gewesen.

Nordöstlich des Kirchenbezirks hieß das Land.“Püttenhof“ Die Pütte bezeichnet einen Brunnen, also eine zum Wasserschöpfen gestaltete Quelle. Das Gelände lag einst viel tiefer als heute.“ (Schroer, Fritz: Ganderkesee – ein alter Kultort? In: „Von Hus un Heimat“, September 1966. 33-34) Auch in der Nähe des früheren Rathauses soll sich eine Quelle befunden haben.

Der „Teufelsfußabdruck“

Strackerjahn berichtet von der die Sage, dass der Teufel versucht habe, das Gewölbe der Kirche zu Ganderkesee mit einem Tritt an die Mauer zum Einsturz zu bringen. Daher sein Fußabdruck an einem Findlingsblock links neben dem Südportal. Archäologisch wird diese Vertiefung als Drehunterlage (Türangelstein) einer Vorgängerkirche erklärt. Aber dann müsste diese Tür einer kleineren Vorgängerkirche eine imposante Größe gehabt haben. Daher konnte eine kultische Funktion des „Teufelsfußabdrucks“ denkbar sein. Hufeisenförmige Fußabdrücke an Steinen aus der Vorzeit sind zahlreich bekannt. Sie diirften  in einer Beziehung zu dem germanischen Gott Wodan/Odin und seinem achtbeinigen Schamanenpferd „Sleipnir“ stehen. Diese Vermutung wird durch eine weitere von Strakerjahn erzählte Sage begründet. Er berichtet zudem in dem oben genannten Buch, dass sich nachts auf dem Kirchhof in Ganderkesee ein Schimmel zeige: Das Pferd von Odin/Wodan. Wie Beispiele aus anderen Orten zeigen, konnte die Vertiefung als Mörser gedient haben, in dem Öl und Salz verrieben wurden. Dieses Gemisch diente als Heilmittel. Diese Vermutung konnte wiederum durch eine von Strackerjahn erzählte Sage begründet werden: „Auch die Kirche zu Ganderkesee wollte anfänglich nicht stehen, bis man ein Kind einmauerte. Der Erzähler (der Sage) meinte, es komme in der Geschichte ein mit Quecksilber gefüllter Pferdekopf vor, wusste aber nicht wie.“ Ist dann der mit Quecksilber“ gefüllte Pferdekopf eine Erinnerung an die Steinsalzölmischung, das aus dem Pferdekopf getrunken wurde? Wurde das Heilmittel von der Kirche zum Gift erklärt?

Weitere lndizien

Ein weiterer Hinweis fiir die Existenz einer Orakelstelle konnte sein, dass die Kirche abseits des damaligen Hauptsiedlungsbereichs gebaut wurde. Dieser dürfte westlich des heutigen Ortes gewesen sein, dort wo Funde im Boden einen großen Siedlungskomplex aufzeigen und wo man das wüst gewordene Wlndhusen vermuten kann. Die schnelle Umwidmung des Bereichs zum Gewerbegebiet durch die Gemeinde Ganderkesee verhinderte leider eine archäologische Untersuchung. Die Ortswahl des Kirchbaus konnte somit nicht davon bestimmt gewesen sein, im Zentrum eines Ortes zu Vielmehr konnten kultisch-religiose Oberlegungen eine Rolle gespielt haben: Die lnbesitznahme und Umfunktionierung einer alten Kultstatte am Platz der heutigen Kirche. Die Windhusener gaben ihren Siedlungsplatz auf und bauten ihre Häuser um die Kirche.

Bei den Ausgrabungen in der Ganderkeseeer Kirche im Jahr 1981 fand man an der Stelle eines abgebrannten germanischen Hauses unter anderem Reste der Herdstelle. Quer über dieses Gebäude wurde die erste Kapelle erbaut. Wurde eine heidnische Statte dadurch christianisiert? Für die Anwesenheit germanischer Eliten, die eine Verbindung zur Orakelstatte gehabt haben konnten, finden sich in Ganderkesee Belege. Östlich des Kirchenbereichs fand sich ein Hemmorer Eimer mit dem Leichenbrand einer männlichen und einer weiblichen Person mit wertvollen Beigaben. (Ein Befund, der für eine Witwenverbrennung spricht?) Dieses in das 2/3. Jh. datierbar Buntmetallgefäß aus römischer oder provinzialrömischer Produktion war ein lmportgut, dass sich im germanischen Barbaricum nur sozial exponierte Personen leisten konnten.

Es fanden sich also viele lndizien, dass sich an der Stelle der Ganderkeseeer Gaukirche eine germanische Orakelstatte befunden haben konnte, an der Weissage- und Zauberkundige Schamaninnen (Seidkona genannt) wirkten. Die waren bei den Germanen dafür zuständig, die Zukunft voraussagten: Ein Beweis hierfür ist jedoch nicht erbracht.

Man sieht: Der Ganter hat für den Ort Ganderkesee eine große und auch geheimnisvolle Bedeutung. Wäre es dann nicht endlich an der Zeit, Ihm ein bronzenes Denkmal mit einem kleinen Teich zu setzen?