geb.1937 –      / Sozialarbeiter, Diplom-Pädagoge, Autor
geb.1937 –      / Sozialarbeiter, Diplom-Pädagoge, Autor

Pastor Friedrich Bultmann

Hermann Speckmann

Der erste Bürgermeister von Ganderkesee          

Friedrich Bultmann, genannt „Fritz Pastor“ (1882 – 1971)                             

Friedrich Bultmann, geboren am 07. Februar 1882 in Holle, entstammte einer bekannten oldenburgischen Pastorenfamilie. Er war ein Vetter des bekannten Marburger Professors für Neues Testament Rudolf Bultmann, der auch Friedrich Bultmann in Ganderkesee besuchte. Der Vater von Friedrich Bultmann war Pastor in Ganderkesee. 1910 übernahm der Sohn dort die 2. Pfarrstelle.

Die Lebensführung seiner Familie orientierte sich am biblischen Ideal der Nächstenliebe, absolut bescheiden und sozial verpflichtet. Er unterstützte arme Kirchenmitglieder und nahm Pflegekinder auf. Seine schlichte Kleidung stieß bei den Gemeindemitgliedern auf Kritik. So trug er, nach dem Vorbild von Pastor Bodelschwingh, ein Baumwolltuch, das viermal gewendet werden konnte, ehe es gewaschen werden musste.

1909 heiratete er Gertrud Dannemann. Aus der Ehe gingen zehn Kinder hervor, davon acht Söhne. In dem großen Haushalt war es nicht immer, was verständlich ist, sehr  sauber. Frau Bultmanns Motto hieß: „ Bisschen Dreck ist auch gesund.“ Womit sie, wie wir heute wissen, Recht hatte. 1912 zog Bultmann mit seiner Familie in die Zweite Pastorei, dem späteren Rathaus ein.

Hans-Günter Vosgerau fand auf einem Flohmarkt das Buch „Der Wanderer zwischen den Welten“ von Walter Flex, in dem dieser ein Kriegserlebnis schildert. Das Buch gehörte Pastor Bultmann. Der hatte 1918 in dem Buch Anmerkungen zu den kriegerischen Aussagen von Flex eingetragen.  An einer Stelle heißt es:

“ Gott all diesen Schwärmern, die sich so tapfer für eine schlechte Sache opferten, gnädig die Decke auf dem Angesicht gelassen bis zum Tode. Dass aber hernach die Heimkehrer und die Daheimgebliebenen sich aufs neue in diese Decke festgebissen, haben sie mit den folgenden Jahrzehnten büßen müssen, es wird wohl noch eines neuen Menetekels bedürfen, bis ihnen und ihren Machthabern die Augen aufgehen. Denen sie aber aufgegangen sind, kann man nur sagen: “Folget der Fahne Christi nach.“                   1918 eine fast hellseherische Prophezeiung.

In der Folgezeit verstummte sein christliches Gewissen nicht, auch wenn er sich dadurch der Lebensgefahr aussetzte. Er verurteilte die politischen Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. 1922 trat er in die SPD ein, nahm am 1. Mai Umzug teil und predigte gegen die Rüstungsindustrie. Die völkischen Verbände beschwerten sich beim Oberkirchenrat über den „roten Pastor“ von Ganderkesee. Es kam zu einer Unterschriftenaktion, bei der mehr als ein Viertel der Gemeindemitglieder Bultmann ihr Vertrauen aussprachen.

Mit dem Erstarken der NSDAP wurde seine Position unsicherer. Die einstige SPD-Hochburg Ganderkesee wandelte sich zu einer braunen Hochburg. Eine Entwicklung, die bisher nicht bearbeitet wurde. Auf einer Tagung der Synode des Kirchenkreises Delmenhorst sagte Bultmann: Dass sich Satan als Engel des Lichts verkleidet und das Kreuz einen Haken bekommen habe. Trotz der heftigen Empörung der Kirchenältesten, zwei Drittel davon waren Nationalsozialisten, kritisierte er weiter die Vergöttlichung des Führers und den Antisemitismus.

Das war für die Nazis eine Ungeheuerlichkeit. Heutigen ist nicht vorstellbar, welch einen Mut solche eindeutigen (und hellsichtigen) Äußerungen in damaliger Zeit erforderten. Es kam wieder, unter Federführung des Ortsgruppenleiters der NSDAP, zu einer Unterschriftenaktion, bei der sich, auch unter Druck, fast 30 % der Gemeindemitglieder für die Ausschließung von Bultmann aus dem Pfarramt aussprachen. Immerhin, eine Mehrheit verweigerte sich.

Der Oberkirchenrat verschob die Entscheidung, geriet aber durch die politische Entwicklung weiter unter Druck und liess eine Fürbitte für Hitler in das Kirchengebet aufnehmen. Bultmann „vergaß“ diese Fürbitte am 2. Ostertag, holte sie aber nach. Nach weiteren Beschwerden gab der Oberkirchenrat nach und versetzte Bultmann am 1. Oktober 1933 in den einstweiligen Ruhestand. Seine Bezüge wurden auf 40 % der einstigen Bezüge herabgesetzt. Er musste die Zweite Pastorei verlassen. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP schrieb in seinen Erinnerungen: „…der Bewohner war auf mein Betreiben wegen seiner marxistischen Einstellung seines Amtes enthoben worden.“ Die Pastorei wurde unter Druck an die politische Gemeinde verkauft und dort das Rathaus eingerichtet. Mit geliehenem Geld konnte die Familie ein Haus in Ganderkesee erwerben.

Unklar ist die Rolle des Landesbischofs Volkers, vorher Pastor in Ganderkesee, der die „Deutschen Christen“ anführte. Diese Gruppe evangelischer Pastoren gründete sich mit dem Erstarken des Nationalsozialismus. Sie übernahm das Führerprinzip und wollte den Protestantismus an die nationalsozialistische Ideologie angleichen. Nach Struthoff wurde der Verkauf der Zweiten Pastorei „von dem ehrwürdigen Pastor Volkerts“ unterstützt.

1935 wird er als Strafanstaltspfarrer in Vechta eingesetzt. Da er sich auch dort nicht im Sinne der herrschenden Ideologie äußerte, wurde er nach dem „Heimtückegesetz“ angeklagt. Das Verfahren wurde hingezogen und nach einer Amnestie eingestellt. 1939 wurde Bultmann erneut angeklagt. Er hatte sich „gehässig und ketzerisch“ über die Verleihung des Mutterkreuzes an seine Frau, Mutter von 10 Kindern, geäußert. Er kam in Untersuchungshaft und wurde zu einer sechswöchigen Gefängnisstrafe verurteilt. Ein mildes Urteil. Nur dadurch zu erklären, dass er in der oldenburgischen Justiz Fürsprecher hatte. So wurde sehr wahrscheinlich eine Einlieferung in ein KZ, das in ähnlichen Fällen bereits geschehen wäre, offenbar durch einen Unbekannten verhindert.

Bultmann ein mutiger Mann in einer schweren Zeit.

Während der Kampfhandlungen im April 1945 in Ganderkesee wurde ein junger Soldat schwer an beiden Beinen verletzt. Zwei Sanitäter brachten ihn auf einem Handwagen in den Gartenbunker am  Haus von Pastor Bultmann an der Urneburger Straße. Dort wurde er notversorgt. Der Schwerverletzte verlangte unentwegt nach Wasser und starb dann in der Nacht.

Fünf der acht Söhne der Familie fallen im 2. Weltkrieg. Der Glaube wird den Eheleuten geholfenhaben, diese Verluste zu tragen. Ihre Lebensläufe finden sich in „Lüdeke, Werner/Speckmann, Hermann: „Eine Erinnerung an die Kriegstoten aus der Gemeinde Ganderkesee.“ Oldenburg 2006. Wenn in Ganderkesee ein örtlicher NSDAP-Funktionär wieder einer Familie den „Heldentod“ eines Angehörigen mitteilte, dann konnte man die hilflosen Tröstungen der Nachbarn hören: „ Denk doch mal an Bultmanns.“ Man fragt sich, wie die Eheleute diesen Verlust bewältigt haben. Als man Frau Bultmann danach fragte, sagte sie: “ Ich sehe sie doch alle wieder.“

Am 1. Juni 1945 wurde Bultmann gegen sein Sträuben von der Militärregierung als Bürgermeister der Gemeinde  Ganderkesee eingesetzt. Er wurde als geeignet angesehen, weil er als Gegner der Nazis aus seinem Amt als Pastor entlassen wurde. Er zog nun als Bürgermeister in das Haus, aus dem er 1933 hinausausgeworfen wurde. Zum Oberstleutnant Wilson von der Militärregierung des Landes Oldenburg entwickelte sich ein fast freundschaftliches Verhältnis, so dass Bultmann ungeschminkt auf Fehlentwicklungen hinweisen konnte. Aufopfernd kümmerte er sich um Flüchtlinge und Vertriebene und um die Sicherheit der Gemeindebewohner. Ehemaligen NSDAP-Mitgliedern stellte er „Persilscheine“ aus. Sogar dem ehemaligen NS- Ortsgruppenleiter Friedrich Struthoff, der 1939 hinsichtlich Bultmann in einem Schreiben gefordert hatte: „ Ein längerer Aufenthalt im Konzentrationslager dürfte hier absolut am Platze sein.“  Alle Flüchtlingskinder, gleich welchen Glaubens, unterrichtete Bultmann unentgeltlich im Konfirmandensaal der Pastorei. Er setzte sich zu den „Halbstarken“, die auf der Friedhofsmauer saßen und gab für sie Getränke aus.

Nach den ersten Gemeinderatswahlen gab Bultmann im September 1946 sein ungeliebtes Amt ab und ging in den Kirchendienst zurück. 1947 wurde er in den Ruhestand versetzt. Er beschäftigte sich mit Heimatgeschichte. 1952 erschien das Buch von Ihm: Geschichte der Gemeinde Ganderkesee und der Delmenhorster Geest.

Am 3. Januar 1971 starb „Fritz Pastor“ 88jährig.

Eine ausführliche Würdigung dieser eindrucksvoll herausragenden Persönlichkeit aus der Gemeinde Ganderkesee steht noch aus.

Quellen:

Meiners, Werner: Schlichte Kleidung erregte Anstoß bei Gemeindemitgliedern. In: Nordwest-Heimat, 21. Januar 1984

Meiners, Werner: Menschen im Landkreis Oldenburg 1918 bis 1954. Oldenburg 1995. 80 – 87

Stuthoff, Friedrich: Meine Berufung zum Bürgermeister. Niedersächsisches Staatsarchiv Oldenburg. Dep. GAN 26 Akz. 64 Nr. 65

Vosgerau, Heinz-Günter: Seltsame Zufälle – oder doch Fügungen?  Keine weiteren Angaben über die Quelle.

Erinnerungen

Den Ganderkeseeern dürfte Bultmann in unterschiedlicher Weise in Erinnerung geblieben sein. Zum Beispiel als skurriler sozialistischer Querkopf, der sich hätte anpassen sollen oder als mutiges Licht in einer dunklen Zeit, der seinem christlichen Glauben treu geblieben ist und ihn praktiziert hat.

Kein Wunder, das von diesem originalen Menschen Geschichten überliefert sind. Hier einige:

Der Hamsterer

Im Unterricht im Konfirmandensaal erklärte Pastor Bultmann, das „Essen organisieren“ keine Sünde sei.  Derselben Meinung war auch Kardinal Frings in Köln. Das „Organisieren“ von Lebensmitteln und Heizmaterial wurde daher „fringsen“ genannt.

Auf der Rückfahrt von einer Hamsterfahrt nach Bergedorf geriet Fritz Pastor mit seinem Fahrrad in die Schiene des Bahnübergangs an der Bergedorfer Straße. Er stürzte und die im Rucksack gesammelten Eier waren Matsch. In der Zeit, in der es wenig zu lachen gab, erheiterte dieses Ereignis die Einwohner von Ganderkesee und Umgebung.

Das aber werden die wenigsten Lacher gewusst haben: Im Hungerwinter 1945/1946 lebten im Hause Bultmann 17 Personen, darunter drei Säuglinge. Nur ein Zimmer des Hauses war durch einen aus der Berufsschule stammenden Herd beheizbar. Im Haus gab es aber immerhin eine kleine Räucherkammer, in dem Speck, Schinken und Wurst – und später Tabak – geräuchert werden konnten. Pastor Bultmann hatte aus seinem christlichen Selbstverständnis heraus diese Menschen aufgenommen und fühlte sich für sie verantwortlich. Für sie begab er sich auf Hamsterfahrten!

 Der “Verwaltungsmensch“

Als Bürgermeister war Bultmann, wie er selbst immer wieder bekundete, kein Verwaltungsmensch. Sein Umgang mit Schriftverkehr war sehr unorthodox. So fand man eines Tages auf Toilettenpapier zurechtgeschnittenes Schreibmaschinenpapier auf dem Haken in der Toilette. Auf einigen war noch der rote Stempel „Geheim“ zu lesen. Amtliche Schreiben pflegte er möglich rasch zu beantworten indem er seine Stellungnahme mit lila Tinte und ganz kleiner Sütterlinschrift auf das Schriftstück schrieb.

Der Raucher 

Seine Kinder schenkten ihm zu Weihnachten handgearbeitet Leder- und Leinenbeutel. Diese waren mit getrockneten Birkenblättern und Blättern von anderen Pflanzen gefüllt und hingen in einer Reihe an Nägeln, die an der Wand seines Dienstzimmers eingeschlagen waren. Die Blätter stopfte er in eine riesige Pfeife um sie zu rauchen. Damit er die Blättermischung anzuzünden konnte, bastelten seine Kinder Fidibusse. Der Gestank soll atemberaubend gewesen sein. Besucher brauchten Zeit, um den Sitzplatz des Bürgermeisters ausfindig zu machen.

Tabak war nach dem Krieg ein begehrtes Zahlungsmittel. Bauer und Privatleute bauten Tabak an. Dort,  wo früher der Aldi Markt stand, trocknete der Bauer Timmermann seine Tabakpflanzen. Die wurden zumeist nach der Fa. Brinkmann in Bremen verkauft. Eines Tages nahm die Firma eine Lieferung nicht an. Mit dem Pferdewagen zurück nach Ganderkesee zu Pastor Bultmann. Der war dafür bekannt, dass er die Fermentierungsgeheimnisse von Tabak kannte. Seine Räucherkammer wird ihm dabei gute Dienste geleistet haben. Alle Selbstraucher brachten zu ihm ihre Tabakpflanzen „zum beizen“. Bultmann nahm die Ladung an und über die Jahre verrauchte er diese Menge. In späteren Zeiten kaufte er die Zigarren bei „Piepen Oetken“ in der Rathausstraße.

Polizeilich auffällig

Die folgende Geschichte, so hat mir sein Sohn, Pastor Ernst Bultmann, versichert, soll erdichtet sein. Sie wird heute noch in Ganderkesee erzählt. Auch wenn sie nicht wahr ist, sie trifft sie die Eigenart von „Fritz Pastor“. Deshalb steht sie hier:

Pastor Bultmann trug nie eine Kopfbedeckung, was damals unüblich und auffällig war. Auch war er fast ärmlich gekleidet und trug Gamaschen. Das jeweils jüngste seiner zehn Kinder trug er im Rucksack bei sich. Eines Tages musste er mit drei seiner Kinder zum Arzt nach Bremen. Als er den Hauptbahnhof verließ, erregte er sofort die Aufmerksamkeit eines Ordnungshüters. Der stellte die Personalien fest. Natürlich glaubte er nicht, dass die vor ihm stehende Gestalt mit einem Baby im Rucksack Pastor in Ganderkesee war. So wurde Bultmann zur Wache gebeten.  Bultmann riet dem Polizisten, er solle den Dorfgendarmen Baars in Ganderkesee anrufen, der würde das seine Angaben bestätigen. Der Gendarm folgte diesem Rat und Baars begann alles so zu schildern, wie es der Bremer Gendarm vor Augen hatte. Bultmann wurde sodann von allen Gendarmen der Wache  mit den allerhöflichsten Entschuldigungsworten zur Tür begleitet.

Gesetzesbrecher     war Bultmann auch. Aber zum Wohle der Menschen, wie folgende Geschichte zeigt. Sie hat sich so zugetragen, wie hier berichtet wird. Der Ort des Geschehens war die Umgebung von Falkenburg. Die Zeit: Vor dem 1. Weltkrieg.

Johann Blankemeyer und Alwine Peters (Namen geändert) wollen heiraten. Es sollte eine große Reiterhochzeit werden. Alle Bauern, die in der weiteren Umgebung ein Pferd besaßen und darauf sitzen konnten, versammelten sich auf dem großen Hof der Familie Blankemeyer. Inmitten der Reiterschar stand die festlich geschmückte Hochzeitskutsche, mit der das Hochzeitspar zur Ganderkeseeer Kirche fahren wollte. Aber die Abfahrt verzögerte sich; ein Grund dafür wurde nicht angegeben. Reiter und Pferde wurden unruhig. Da näherte sich von Ganderkesee kommend ein Auto. Darin saßen der Standesbeamte Diedrich Tönjes und Pastor Friedrich Bultmann. Das sorgte schon für erhebliche Verwunderung unter den Wartenden.  Der Standesbeamte und der Pastor gingen ins Schlafzimmer. Dort lag die Braut im Bett. Unter der Bettdecke versteckt, lag der vor einer Stunde mit Hilfe von „Modder Griepsch“ geborene Sohn der Brautleute. Die standesamtliche und kirchliche Trauung wurde im Eiltempo vollzogen. Dann wurde der Sohn unter der Bettdecke hervorgeholt, der nun als ehelich geboren angesehen werden konnte. Das war sowohl für den Anstand als auch für die Erbfolge wichtig. Eine lebenspraktische Lösung. Heute undenkbar.

Ob die auf dem Hof wartenden Reiter von allen Vorgängen im Schlafzimmer erfuhren, ist nicht überliefert.